Alvion - Vorzeichen (German Edition)
Inneren des Felsens zugänglich war, halten? Fast glaubte Tian, die Festung vor sich zu sehen, so real waren die Bilder seiner Erinnerung, obwohl er sie nur ein einziges Mal hatte betreten dürfen. Er erinnerte sich an die einzelnen, aus dem Felsen herausgeschlagenen Plateaus, auf denen mächtige Kriegsmaschinen ruhten und die unzähligen, vom Haupttunnel abzweigende Gänge, die zu einer ebensolchen Unzahl an Verteidigungsplätzen führte. Der Eindruck, den die innere Zitadelle damals auf ihn gemacht hatte, als er sie einmal von innen sehen durfte, war gewaltig gewesen, sodass es ihm jetzt unmöglich erschien, dass sie jemals fallen würde. Sie war nicht einmal im schlimmsten Zeitalter Argions vor Jahrhunderten, als die Kragier, ihre Erbfeinde, Argion besetzt hatten, gefallen. Unbeugsam hatten sich die Argion damals gegen die Knechtschaft zur Wehr gesetzt und auch dieses Mal würde es wieder so sein! Kein Meridianer würde auch nur einen Fuß dort hineinsetzen, selbst wenn der Rest des Landes verloren ging. Jedes Mal landete Tian wieder bei dieser Überzeugung, doch immer wieder blieben nagende Zweifel zurück und irgendetwas sagte ihm, dass in diesem Krieg alles anders war als in den unzähligen Kriegen Velias zuvor, zumindest in jenen seit den legendären lynischen Vernichtungskriegen. Vielleicht wurde den Argion nun zum Verhängnis, dass sie ihr altes, kriegerisches Wesen abgestreift hatten. Früher waren sie ein aggressives, expansives und doch sehr diszipliniertes Volk gewesen, mit geübten, wohlgeordneten Streitkräften, die vor Jahrhunderten sogar Solien niedergeworfen und lange beherrscht hatten. Damals hatten sich die Völker Soliens – die Zal waren zu jener Zeit noch zu primitiv gewesen – mit den Kragiern verbünden müssen und erst nach Jahrhunderten die Argion wieder in ihre Stammlande zurückdrängen können. In den darauf folgenden Jahrhunderten hatten die Argion ihre Eroberungsgelüste abgelegt und waren ein friedliebendes Volk mit hoher Kultur geworden, das sich auf die Verteidigung seines Landes und seiner Werte beschränkte, auch wenn es noch dutzende Kriege gegen Kragien geführt hatte, doch auch der letzte von diesen lag bereits lange zurück. Selbst wenn es nun von Vorteil gewesen wäre, eine Heeresstruktur wie Solien zu haben, war Tian froh, dass es in Argion nicht mehr so war und er hätte es, auch wenn er vorher von diesem Krieg gewusst hätte, nicht anders gewollt. Er begriff in diesem Moment, wie tief diese kulturelle Wandlung seines Volkes auch in ihm verankert war, denn seine Abenteuerlust entsprang seiner Neugier, fremde Orte und andere Wesen kennenzulernen und nicht dem Bedürfnis, diese zu beherrschen. Und merkwürdigerweise bestärkte ihn diese Erkenntnis in seiner Entschlossenheit und seiner Hoffnung.
Ein düsterer Fluch schien auf uns zu lasten, so als hätte Nisistrus sich persönlich unseres Schicksals angenommen und Freude daran, uns mit allerlei Widrigkeiten zu quälen. Seit nunmehr einer Woche versuchten wir, die Überlebenden der ersten großen Schlacht des Krieges, durch die dichten Wälder am Saum der Solischen Berge zu reiten und nach Perlia zu gelangen. Bereits an unserem zweiten Tag im Wald hatte es begonnen zu regnen und seit sechs Tagen nicht mehr aufgehört. Die im Süden Heimischen unter den Überlebenden, also jene, die im Südosten Soliens aufgewachsen waren, bestätigten, dass es wohl seit Jahrhunderten nicht mehr geschehen war, dass im Sommer sieben Tage durchgehend Regen fiel. Zwar schützte uns das Dach, welches die Kronen der Bäume über uns bildeten, zumindest vor dem strömenden Regen, doch trotzdem tropfte noch genügend Wasser auf uns herab. Der Boden war überall feucht, selbst in der Luft hing die Nässe, und keiner von uns hatte noch einen trockenen Fetzen Kleidung am Leib, ganz zu schweigen von der grimmigen Kälte, die jedem von uns tief in den Gliedern steckte. Die furchtbare Niederlage, die wir vor sieben Tagen erlitten hatten, die Ungewissheit über die weiteren Geschehnisse und die Angst vor der Zukunft taten ihr Übriges, um von unserer Moral nicht mehr viel übrig zu lassen. Streitereien und kleine Handgemenge waren an der Tagesordnung und von Mal zu Mal wurde es für uns Offiziere schwieriger, diese Dinge im Zaum zu halten. Dazu kam noch, dass jeden Tag Verwundete unter den Strapazen zusammenbrachen, von den Siebenhundert die aufgebrochen waren, waren bereits über Zweihundert gestorben und vor drei Tagen hatten wir schließlich auch
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