Alzheimer und Demenzen
wenn der Kranke beginnt, Persönlichkeitszüge zu entwickeln, die er früher nicht hatte, sondern auch, wenn sich bereits alte Eigenheiten verstärken. Weil mir die Eigenheiten des Kranken, die sich nun verstärken, ja schon bekannt sind, fällt es mir umso schwerer, sie als Zeichen einer Krankheit zu akzeptieren. »Das kann nichts mit der Krankheit zu tun haben, denn das hat er schon früher gemacht!« lautet dann meine spontane Einschätzung. Aufgrund dieser Einschätzung macht mich das »störende« Verhalten des Kranken wütend und ärgerlich, weil ich davon ausgehe, der Kranke verhalte sich absichtsvoll und willentlich so!
Tatsächlich ist es jedoch so, dass ein Demenzkranker, durch seine Unfähigkeit Neues zu lernen, unflexibel wird. Er ist oft allein aufgrund seiner geistigen Fähigkeiten nicht mehr in der Lage, sein eigenes Verhalten kritisch »von außen« zu betrachten und sich zu fragen, ob und inwieweit er es verändern sollte. Einen solchen Lern- und Entwicklungsprozess kann man von einem demenzkranken Menschen nicht mehr erwarten! Da die Krankheitssymptome ihn wahrscheinlich verunsichern und verängstigen, wird er dazu neigen, die ihm bekannten Verhaltensweisen beizubehalten, denn das vermittelt ihm das Gefühl von Sicherheit. Durch die hirnorganischen Veränderungen können diese störenden Persönlichkeits- und Verhaltensmerkmale nun noch verstärkt werden.
Noch einmal soll allerdings betont werden, dass sich nicht alle Persönlichkeitsveränderungen und Verhaltensauffälligkeiten durch Mitgefühl und Fürsorge entschärfen lassen. Außerdem können sie derart belastend sein, dass sie die Angehörige an den Rand ihrer Kräfte bringen können. Spätestens dann muss eine medikamentöse Behandlung in Betracht gezogen werden.
wichtig
Auch im Fall der Verstärkung von Persönlichkeitsmerkmalen ist es sowohl für den Kranken als auch für mich als Angehörige entlastender, diese Entwicklung als Zeichen seiner Demenzerkrankung anzuerkennen und Verständnis und Mitgefühl dafür aufzubringen.
»Rechthaberei« und mangelnde Krankheitseinsicht
Viele Menschen mit Demenz scheinen eine eingeschränkte Einsicht in ihre Erkrankung und die damit einhergehenden Beeinträchtigungen zu haben (siehe hierzu Kapitel 3).
Ein Demenzkranker lässt z. B. sein Portemonnaie im Geschäft liegen, aber nachher sagt er, er sei sich sicher, dass es ihm gestohlen wurde.
Oder er vergisst eine Verabredung, aber später beharrt er auf seiner Meinung, dass er von einer Verabredung nie etwas erfahren habe.
Oder er kann sich nicht mehr an das Gespräch erinnern, das er tags zuvor mit einem Bekannten geführt hat, aber er hält an seiner Einschätzung fest, dass ein solches Gespräch nicht stattgefunden habe.
Oder er verläuft sich bei seinem Einkaufsweg und berichtet hinterher, dass er absichtlich einmal anders gehen wollte.
Die Liste solcher Beispiele ließe sich noch lange fortsetzen. Wiederum lassen sich »falsche« Behauptungen und Aussagen von Demenzkranken kaum durch Argumente und Gegenbeweise korrigieren. Viele Demenzkranke beharren auf ihrer Sicht der Dinge und wenn sie mit vielen Widerworten und Gegenargumenten konfrontiert werden, verschließen sie sich, fühlen sich falsch verstanden oder hintergangen, werden misstrauisch und aggressiv oder glauben, die anderen Menschen wollten sie »verrückt machen«.
Es ist für mich als Angehörige zunächst schwer, zu akzeptieren, dass sich die Realitätswahrnehmung des Kranken von meiner zunehmend unterscheidet. Doch je mehr ich mich in meine neue Rolle als betreuende Begleiterin eines Demenzkranken einlebe, desto stärker wird meine Fähigkeit, widersprüchliche Wahrheiten aushalten und nebeneinander stehen lassen zu können.
WISSEN
Anosognosie
Mangelnde Krankheitseinsicht wird in der Fachsprache als Anosognosie bezeichnet. Auch hier gibt es zwei Ursachenbereiche: einen emotional-psychischen und einen hirnorganischen. Es ist im Einzelfall oft schwer zu unterscheiden, ob ein Kranker seine Defizite tatsächlich nicht wahrnehmen kann oder ob er sie abwehrt, weil er mit dem ständigen Gefühl des Scheiterns und Versagens nicht leben könnte. Doch mit einem sturen »Nichtzugeben-wollen« hat Anosognosie bei Demenz nichts zu tun.
Psyche kann Krankheitseinsicht einschränken
Zunächst zu den emotional-psychischen Ursachen: Früher gingen viele Psychologen davon aus, dass Anosognosie ausschließlich Folge eines absichtlichen Verleugnungsmechanismus sei, um depressive Gefühle
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