Alzheimer und Demenzen
zu bewahren – dies ist auch eine Art der Demenz-Behandlung. Dadurch, dass er Tagebuch führt, sich alte Bilder anschaut, mit Familienangehörigen »über damals« spricht, bleibt er so lange wie möglich in seinem Leben verhaftet.
Umgangssprachlich meint »erinnern« so viel wie: sich eine vergangene Situation noch einmal genau zu vergegenwärtigen. Dieser Bedeutung liegt die Idee zugrunde, dass das Gedächtnis frühere Situationen und Erlebnisse realitätsgetreu speichert, wie eine Videokamera oder ein Fotoapparat ein Urlaubserlebnis festhält. Unter »erinnern« versteht man also das Betrachten dieses Gedächtnisfilmes oder -bildes mit dem inneren Auge. Wenn der Kommissar in einem Kriminalspielfilm zu dem Zeugen sagt: »Bitte versuchen Sie sich genau daran zu erinnern, welche Farbe das Fluchtauto hatte!«, dann meint er damit: »Sehen Sie sich Ihren Gedächtnisfilm noch einmal genau an und achten Sie besonders auf die Farbe des Fluchtautos!«
Tatsächlich ist es jedoch so, dass unsere Erinnerungen nicht realitätsgetreue Beschreibungen vergangener Situationen sind, sondern wir uns nur einzelne »Ausschnitte« merken, die für uns persönlich eine Bedeutung haben. Sicherlich kennen Sie die Situation, dass jemand ein gemeinsames Erlebnis ganz anders schildert, als Sie es in Erinnerung haben, obwohl Sie doch vermeintlich »das Gleiche« erlebt haben.
Das liegt daran, dass wir eben nicht wie ein Fotoapparat funktionieren, der alle Details – wichtig oder unwichtig – gleichermaßen abbildet. Wir haben einen »persönlichen Filter«, der bestimmt, was wir behalten wollen und was nicht. Dieser Filter hängt von unseren Interessen, Persönlichkeitsmerkmalen und unserem Wissen ab und auch von unserem momentanen Zustand: Wenn es uns schlecht geht, nehmen wir unsere Umwelt kaum wahr und kapseln uns ab. Wenn es uns gut geht, sind wir »offen« und lassen alle Eindrücke in uns hineinströmen.
Schon beim Einspeichern wird die Realität also durch ein persönliches Filtersystem verändert. Doch auch Erlebnisse, die bereits gespeichert sind, werden im Laufe der Zeit weiter verändert: Durch neu hinzukommende Erlebnisse werden alte Erinnerungen und Gedächtnisinhalte ständig neu bewertet, also in einem neuen, veränderten Licht betrachtet, dem neuen Wissensstand angepasst und somit verändert. Dies geschieht meist unbewusst.
Wenn Menschen ein wichtiges Ereignis ihrer Biografie, z. B. ihren ersten Arbeitstag, wiederholt in ihrem Leben erzählen, verändert sich die Erzählung immer mehr: Die Abweichungen von einer Erzählung zur nächsten sind vielleicht nur gering, doch würde man die Geschichten miteinander vergleichen, die 30 Jahre auseinanderliegen, würde die Verschiedenartigkeit der Erinnerungen wahrscheinlich verblüffen!
Durch jeden Rückblick ordnet man die Erfahrungen des Lebens erneut und kann sich soseiner eigenen Identität vergewissern: »Wie erkläre ich mir heute, aus meiner heutigen Sicht auf die Welt, warum mein Leben so und nicht anders verlaufen ist?«
Erinnern als Therapie
Der therapeutische Umgang mit dem Erinnern basiert auf der Erfahrung, dass das Erzählen von Erinnerungen eine heilende Wirkung auf den Menschen haben kann. Zwar kann ein Mensch natürlich auch ganz alleine für sich auf sein bisheriges Leben zurückblicken, doch gewinnt das Erinnern eine ganz andere Qualität, wenn man seine Erinnerungen einem anderen Menschen mitteilt.
So scheint es zu den menschlichen Grundbedürfnissen zu gehören, über das eigene Leben zu sprechen. Setzt ein solches Erzählen doch voraus, dass es jemanden gibt, der mir zuhören, meine Geschichte hören will, der sich für mein Leben interessiert. Und dieses Interesse zeigt mir, dass mein Leben wertvoll ist und dass ich wertvoll bin, weil niemand anders meine einzigartige Lebensgeschichte aus meiner jetzigen Sicht erzählen kann. Man könnte deshalb sagen, dass ein Mensch dann einsam ist, wenn es niemanden gibt, der sich für seine Lebenserinnerungen interessiert.
Der therapeutische Umgang mit Erinnerungen geht jedoch über das Stillen dieses Grundbedürfnisses, einen Zuhörer zu finden, der sich für mein Leben interessiert, hinaus. Denn im therapeutischen Gespräch soll ein Mensch darin unterstützt werden, sich mit seiner eigenen Lebensgeschichte auseinanderzusetzen: Dadurch kann ihm bewusst werden, welche Bedeutungen frühere Erlebnisse für ihn hatten und inwieweit sie ihn in seinem späteren Handeln und Tun beeinflusst haben. Durch Nachfragen kann er
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