Am Abend des Mordes - Roman
Vielleicht die Tatsache, dass er mehr zu verstehen scheint, als er preisgibt.
Dass sie weint, hat jedoch nichts mit dem Mann von der Kripo zu tun, sondern liegt einzig und allein an den Zwiebeln.
Und aus irgendeinem Grund muss sie an Dreamboy denken.
Verdammter Mist, murmelt sie vor sich hin. Ich will jetzt nicht an ihn denken.
In der Woche nach Mittsommer, ihrer letzten Arbeitswoche vor dem Urlaub, nimmt sie das Auto zum Geschäft. Es löst ein eigentümliches Freiheitsgefühl aus, am Steuer zu sitzen und selbst über sein Schicksal bestimmen zu können – statt Busfahrplänen hinterherzujagen und sich mit halb schlafenden, mürrisch müden Pendlern zu drängeln.
Das mit dem Schicksal ist vielleicht etwas übertrieben, aber sie staunt über das fast kribbelnde Gefühl in ihrem Körper, wenn sie morgens vom Burmavägen auf die 272 in Richtung Stadt biegt. Ich könnte an einen ganz anderen Ort fahren. Das Eisenwarengeschäft Eisenwarengeschäft sein lassen, das Auto volltanken und stattdessen nach Göteborg fahren. Oder noch weiter: Oslo? Kopenhagen? Mir am Abend ein Hotelzimmer nehmen und am nächsten Morgen irgendwohin weiterfahren. In die Welt hinaus. Ins Leben hinaus.
Wenn ich Geld hätte.
Das sind natürlich keine ernsthaften Gedanken, nur sanfte, spielerische Tagträume, aber sie erfüllen sie dennoch mit einem Lebensgefühl, das für sie etwas … ja, etwas Neues und ihr völlig Unbekanntes ist. Und was ist mit Billy, was willst du mit ihm machen?, fragt sie sich, vielleicht stellt ihr auch Muti diese Frage. Den nehme ich natürlich mit, antwortet sie. Kein Problem, warum sollte es eins sein?
Darauf gibt Muti ihr keine Antwort.
Tagträume am Lenkrad. Aber bald werden sie nach Öland fahren und zelten, Billy und sie, das ist kein Tagtraum. Das reicht völlig, und dass Harrys Abwesenheit eine solche Bedeutung für sie haben würde, hat sie sich nicht vorstellen können. Andererseits ist er in ihren Gedanken auch niemals abwesend gewesen. Er ist immer bei ihr gewesen, so gegenwärtig wie verdammter Wundschorf.
Und jetzt ist der abgekratzt worden. Das wurde wirklich Zeit nach siebzehn Jahren.
Sie merkt es auch auf der Arbeit. Sie geht ganz anders auf die Kunden ein. Ist nicht mehr so schüchtern und ausweichend wie sonst, sondern offener. Freimütig, manchmal sogar lächelnd und mit einem schelmischen Zwinkern. Das glaubt sie jedenfalls, denn es ist leichter, das Zwinkern in den Augen anderer zu entdecken.
Ihre Arbeitskollegen finden sie vermutlich tapfer. Ihr Mann ist verschwunden, aber Ellen Helgesson hat ihre Sorgen im Griff. Das muss für sie ja wirklich furchtbar sein. Nicht Bescheid zu wissen, sich ständig zu fragen, was passiert ist. Verdammt noch mal, was ist passiert? Sofia hat ihr gesagt, dass sie ruhig zu Hause bleiben darf, wenn sie meint, das zu brauchen, aber sie hat geantwortet, dass sie lieber arbeiten möchte wie immer. Das falle ihr leichter, als daheimzubleiben und zu grübeln.
Dazu nicken sie und erklären, das könnten sie gut verstehen. Sie denkt, eins tun sie ganz bestimmt nicht – verstehen.
Ohne ihr neues Lebensgefühl hätte es niemals zu der Episode mit Dreamboy kommen können. Sie hätte sich niemals getraut. Es wäre ihr im Leben nicht eingefallen, seinem Blick so offen und lässig zu begegnen, als er fragt, ob sie noch weiß, wer er ist.
Natürlich erkennt sie ihn.
»Ja, klar«, sagt sie, während sie seine Schrauben sowie Stahldraht und Isolierband und was noch alles in eine Plastiktüte packt. »Schön, dich zu sehen. Wie geht es dir?«
»Gut«, sagt er, aber sie hört, dass er lügt. »Und dir?«
Sie fragt sich, ob er von Harry gehört hat oder nicht. Vielleicht nicht, sie hat Dreamboy seit Jahren nicht mehr gesehen, nicht einmal gewusst, dass er in der Stadt lebt. Er nimmt seine Tüte an, zögert eine Sekunde und fragt sie, ob sie Lust auf einen Kaffee habe.
Sie hat fünf Minuten später Feierabend, was Dreamboy natürlich nicht ahnen kann.
»Jetzt?«, fragt sie.
Er lächelt ein wenig schüchtern. »Ja, aber du kannst hier vielleicht nicht weg?«
Eine Viertelstunde später sitzen sie in der Konditorei am Norra torg. Sie denkt, dass sie wahrscheinlich zum ersten Mal in ihrem Leben mit einem fremden Mann einen Kaffee trinkt. Sechsunddreißig Jahre ist sie alt, da wird es wirklich höchste Zeit, könnte man meinen.
Nun ja, ein Fremder ist er streng genommen nicht, jedenfalls nicht ganz. In dem Jahr auf der Kymlingeviks-Schule gingen sie immerhin in dieselbe
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