Am Abend des Mordes - Roman
blickt auf die grandiose Landschaft hinaus. Die Sonne hat die Wolkenschleier des Vormittags durchbrochen, man kann viele Kilometer weit sehen. Ich wünschte, ich dürfte mein Leben noch einmal leben, denkt sie. Nichts ist so gekommen, wie es kommen sollte.
Nein, denkt sie als Nächstes, dürfte ich es noch einmal leben, würde ich es bestimmt wieder vermasseln. Und vielleicht geht es ja allen Menschen so. Wir gehen von Finsternis zu Finsternis. Wir treffen die falschen Entscheidungen, wir kommen mit den falschen Menschen zusammen, und wenn wir umkehren wollen, ist es schon zu spät. Halte nicht am Burmavägen .
Die Landschaft ist wirklich atemberaubend schön. Warum können wir das nicht einfach in uns aufnehmen?, fragt sie sich. Warum reicht uns das nicht? Warum kam es für Dreamboy, wie es kam?
Nein, es kommt wahrlich nie wie gedacht. Aber hat sich überhaupt jemand irgendetwas gedacht? Gibt es einen Sinn? Wenigstens eine Pointe?
Vielleicht trotz allem Billy.
47
E r wacht auf und hat das Gefühl, unter einem Berg geschlafen zu haben.
Die Augen zu öffnen bedeutet, zwei Jalousien aus Blei an dünnsten Fäden anzuheben, und er lässt sie wieder herunter. Begreift nicht, wozu das gut sein sollte.
Aber irgendjemand lässt nicht locker, weckt ihn, knufft und stößt ihn und sagt etwas, was er nicht versteht. Jetzt gibt ihm jemand auch noch Ohrfeigen mit der flachen Hand. Man rüttelt seine Schultern und weigert sich, ihn in Ruhe zu lassen, und so zieht er erneut an den Fäden, um die Lider aufzubekommen.
Was ihm halbwegs gelingt. Jedenfalls so weit, dass sich in ihm das Bedürfnis regt, sich zu orientieren. Wo bin ich? Wie viel Uhr ist es? Zweifellos grundlegende Fragen, denen er sich der Reihe nach widmet. Er liegt auf dem Rücken in einem Zimmer, das er wiedererkennt. Allerdings nur vage, es ist eine Erinnerung, die vorerst noch aus dem Zusammenhang gerissen ist. Marianne, denkt er, aber schon als er den Namen formuliert, weiß er, dass sie nicht mehr bei ihm ist. Sie ist tot. Für immer fort.
Dennoch taucht die Frage jeden Morgen an diesem Drehkreuz zwischen Schlafen und Wachen auf. Genau wie die Antwort: Ach, stimmt, natürlich, so ist das ja. Vielleicht wird es für den Rest seines Lebens jeden Morgen so sein. Warum muss die Zeit nur so trostlos linear sein?, fragt er sich. Warum darf man nicht irgendwann aufwachen und zwölf sein; an einem anderen Morgen zweiundfünfzig, am nächsten vierundzwanzig? Warum durften sich die Lebenstage nicht ein bisschen vermischen?
Das sind alte Gedanken, nichts, was er in der momentanen Lage zustande bringen könnte, bloß etwas, was durch sein neu eröffnetes Bewusstsein schwirrt. Momentan ist letztlich nicht einmal Morgen. Jedenfalls fühlt es sich nicht so an. Andererseits fühlt es sich auch nicht wie eine andere Tageszeit an, aber er liegt vollständig angezogen unter einer Decke. Warum sollte er morgens bekleidet sein?
Dann steigt er rasch zur Oberfläche auf.
Vilhelmina. Die Pension. Ellen Bjarnebo.
Er öffnet nochmals die Augen, offenbar hat jemand sie geschlossen. Auf einem Stuhl neben seinem Bett sitzt eine Frau, die er nun endlich bemerkt.
Es ist nicht die Mörderin, es ist nicht die Pensionswirtin.
Sie scheint um die fünfzig zu sein und ist mit einem weißen Kittel bekleidet. Um den Hals trägt sie ein Stethoskop.
»Wie geht es Ihnen?«, fragt sie. »Sind Sie jetzt wach?«
Er reibt sich mit den Händen über das Gesicht.
»Bin ich, danke«, sagt er und bringt nur ein heiseres Flüstern heraus. Plötzlich merkt er, dass er furchtbar durstig ist. Er setzt sich halb auf, entdeckt, dass auf dem dreibeinigen Tisch eine Karaffe mit Wasser und ein Glas stehen. Ein Blick darauf genügt, damit die Frau begreift. Sie nickt und schenkt ihm etwas ein. Er leert das Glas und bittet um ein zweites.
»Wie viel Uhr ist es?«, fällt ihm ein.
Sie schaut auf ihre Armbanduhr.
»Halb zehn.«
Er begreift nicht.
»Abends?«
»Ja.«
»Ich muss … ich muss meinen Flug erreichen.«
»Ich fürchte, den haben Sie verpasst.«
»Und warum? Ich meine … warum liege ich hier?«
»Sie sind eingeschlafen?«
»Eingeschlafen?«
»Ja. Sie haben … tja, fast zwölf Stunden geschlafen. Wissen Sie noch, dass Sie sich heute Morgen hingelegt haben?«
»Äh … ja, ja natürlich. Ich …«
»Ja?«
»Ich wollte nur ein Nickerchen machen.«
»Das haben Sie auch getan. Allerdings fiel es etwas länger aus, als Sie es sich gedacht haben.«
Er setzt sich auf der Bettkante auf.
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