Am Abend des Mordes - Roman
Klasse, aber sie glaubt nicht, dass sie ihn seither gesehen hat. Er ist auch nicht mehr so schön wie damals, als er erst vierzehn und fünfzehn Jahre alt war.
Schön und schläfrig, deshalb bekam er seinen Spitznamen. Eigentlich heißt er Kenneth irgendwas, einer der Lehrer fing damals damit an, ihn Dreamboy zu nennen, weil er in den Schulstunden immer träumte.
Verträumt und schön. Lange, dichte und dunkle Haare, durch deren Wellen man gerne barfuß laufen würde. Sie weiß, dass sie eine Zeitlang in ihn verliebt gewesen ist, genau wie vermutlich viele andere Mädchen auch – aber da sie nur eine Maus war, gestand sie das nicht einmal sich selbst ein. Eine Maus und ein Dreamboy, das erschien ihr irgendwie undenkbar.
Das Problem mit Dreamboy war nur, dass er zu müde war, um genügend Kraft aufzubringen, sich für irgendetwas zu engagieren; er wurde mit Sicherheit von vielen umschwärmt, aber da er auf nichts und niemanden reagierte, wurden die Mädchen es leid. Dreamboy war zwar weiterhin schön, wurde als Liebesobjekt jedoch schon bald ausgemustert. Sein Kosename rutschte unaufhaltbar eine Schräge hinab und wurde zu einem Spitznamen.
So ist es ihr jedenfalls in Erinnerung geblieben. Sie ging nur ein Jahr in diese Klasse, es war das Jahr, in dem sie zum ersten Mal in ihrem Leben mit jemandem knutschte, und an den will sie nun wirklich nicht denken.
Dann doch lieber an Dreamboy und die Konditorei. Obwohl es eine traurige Erinnerung ist.
Da sitzen sie also, und seine welligen Locken sind verschwunden, aber man sieht natürlich trotzdem, dass er es ist. Dunkle Augen, schöner Mund, fliehendes Kinn, er ist anders als vor zwanzig Jahren, das ist klar, aber er scheint noch genauso in sich gekehrt zu sein wie früher. Sie fragt sich, warum er ihr vorgeschlagen hat, einen Kaffee trinken zu gehen.
»Jetzt erzähl mal«, bittet sie ihn. »Wie geht es dir? Ich glaube, seit der Schulzeit habe ich dich nicht mehr gesehen.«
Und er sagt, dass er mal hier, mal da gewohnt hat, aber gerade erst in die Stadt zurückgekehrt ist. Deshalb ist er in das Eisenwarengeschäft gegangen, er muss die Wohnung, die er frisch bezogen hat, renovieren. Nach einiger zäher Konversation kommt heraus, dass er erst kürzlich geschieden wurde und unglücklich ist. Ehrlich gesagt nicht weiß, ob er die Kraft zum Weiterleben hat.
Sie weiß nicht, was sie sagen soll. Denkt, dass er ziemlich einsam sein muss, wenn er jemanden zum Kaffee einlädt, den er so lange nicht gesehen hat und gar nicht kennt, um dann über so etwas zu sprechen.
Dass er vorhat, sich das Leben zu nehmen, oder was will er ihr sagen?
Aber es ist auch zwanzig Jahre später schwierig, mit ihm zu sprechen. Als er das über seine Scheidung und sein Unglück endlich losgeworden ist, hat er anscheinend genug gesagt. Er fragt auch nicht, wie es ihr geht, und so sitzen sie sich gegenüber wie zwei langsam erlöschende Kerzen. Sie versucht dennoch, das eine oder andere anzusprechen, aber er antwortet ihr nur einsilbig und sieht sie nicht an. Vielleicht bereut er es, sie hierhergelockt zu haben, und als zwanzig Minuten oder eine halbe Stunde verstrichen sind, als sie den Kaffee und die Zimtschnecken bis zum letzten Tropfen und Krümel vertilgt haben, sagt sie ihm, dass sie gehen muss.
Daraufhin streckt er seine Hände über den Tisch und nimmt ihre in seine. Sieht ihr zum ersten Mal fest in die Augen und fragt, ob er sie wiedersehen darf.
Und sie spürt, ja, zum ersten und einzigen Mal in ihrem Leben spürt sie, dass sie diesen Mann lieben können würde.
Es ist, als fiele sie in einen Brunnen, in ihrem Inneren öffnet sich ein Schacht, und ihr Kopf wird leer wie der einer toten Puppe. Sie atmet mehrmals tief durch, um sich wieder in den Griff zu bekommen, schaut in seine dunklen, traurigen Augen, und schafft es schließlich, zu guter Letzt, zu sagen, ja, ja, natürlich können sie sich wiedersehen.
Er lässt ihre Hände los, und der Bann ist gebrochen. Sie stehen auf, und er meint, dass er jetzt ja wisse, wo sie arbeitet, und daraufhin trennen sie sich.
Mittlerweile ist es schwer zu sagen, ob es nur die Zwiebeln sind, die ihre Tränen kullern lassen. Übrigens ist sie zu Lauch übergegangen, und es weint doch kein Mensch, weil er Lauch schneidet?
Er meldet sich nie bei ihr.
Erst als sie, zwölf oder dreizehn Jahre später, aus Hinseberg zurückkehrt, erfährt sie rein zufällig, dass er es tatsächlich getan hat.
Dreamboy hat sich in jenem Sommer das Leben genommen.
Sie
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