Am Abend des Mordes - Roman
Ein bisschen zu schnell, ihm wird kurz schwindlig.
»Was ist passiert?«
Sie schenkt ihm ein mildes Lächeln. Er findet, dass sie sehr wohlwollend wirkt, an einen Trauertherapeuten erinnert. Obwohl sie natürlich Ärztin ist. Dunkelhaarig und ein wenig rätselhaft und wie gesagt in seinem Alter. Unter dem aufgeknöpften Baumwollkittel trägt sie ein Polo-Shirt und eine Jeans.
»Ich weiß es nicht genau«, antwortet sie. »Mona rief mich an, und weil ich in der Nähe wohne, bin ich vorbeigekommen.«
»Aha?«
Sie legt ein kleines Heft zur Seite, das auf ihrem Schoß gelegen hat, und beugt sich näher über ihn. »Ihr Blutdruck scheint normal zu sein, ihr Puls auch … ich habe Sie eine Weile im Auge behalten. Alles scheint völlig normal zu sein, ich könnte mir vorstellen, dass es sich um eine Art Stressreaktion handelt.«
»Eine Stressreaktion?«
»Ja. Könnte es dafür einen Grund geben? Panische Angst, vielleicht?«
Er seufzt und denkt nach.
»Ja … doch, mag sein. Aber einen ganzen Tag zu verschlafen?«
»Sind Sie in letzter Zeit mit einer traumatischen Erfahrung konfrontiert gewesen?«
»Wie lange haben Sie hier gesessen?«
»Ungefähr zwei Stunden. Ich bin nach der Arbeit im Ort vorbeigekommen. Aber ich habe Sie gefragt, ob Sie in letzter Zeit etwas Traumatisches erlebt haben?«
»Meine Frau ist gestorben.«
Sie greift nach ihrem Stethoskop und lässt es wieder fallen. »Und wann?«
»Vor einem Monat. Etwas mehr als einem.«
»Kam das unerwartet?«
»Ja. Und nein.«
Sie nickt und betrachtet ihn einige Sekunden ernst.
»Sie sind Polizist?«
»Ja.«
»Und Sie arbeiten Vollzeit? Ist das wirklich so klug?«
Er weiß nicht, ob es klug ist, hat das Gefühl, überhaupt nichts zu wissen. Er sitzt auf der Bettkante in diesem kleinen Pensionszimmer am äußersten Vorposten der Zivilisation und findet, dass er jegliche Verankerung verloren hat. Müdigkeit und Verwirrung liegen wie nasse Decken auf seinen Gedanken, und er merkt auf einmal, dass er nochmals zwölf Stunden Schlaf brauchen könnte. Obwohl er doch gerade erst so viel geschlafen hat.
»Was stimmt mit mir nicht?«, fragt er.
»Ich bezweifle, dass es etwas Körperliches ist«, sagt sie in einem zweifelnden, zögerlichen Tonfall. »Sie könnten psychisch erschöpft sein, dann kann es zu solchen Reaktionen kommen. Ich nehme an, Sie trauern sehr um Ihre Frau?«
»Ja, sehr.«
»Haben Sie Kinder?
»Ja. Fünf.«
»Fünf?«
»Ja, aber Sie sind erwachsen. Jedenfalls einige von ihnen.«
»Vielleicht sollten Sie lieber bei ihnen sein, als hier oben zu sitzen?«
»Ich wollte nur einen Tag bleiben … aber jetzt scheint daraus noch einer zu werden.« Das versetzt ihn kurzzeitig in Panik. »Wissen Sie, wann morgen ein Flug geht?«
»Morgens geht eine Maschine. Aber wenn Sie die nehmen wollen, müssen Sie hier um sechs Uhr früh losfahren.«
»Das geht in Ordnung, ich nehme den Flug. Aber ich bin immer noch müde. Das ist doch nicht normal.«
Sie steckt die Hände in die Kitteltaschen und scheint abzuwägen.
»Wissen Sie was, wenn Sie nach Hause kommen, sollten Sie zur für Sie zuständigen Poliklinik gehen und sich einmal gründlich durchchecken lassen. Aber Sie sollten auch in Erwägung ziehen, zumindest in der nächsten Zeit, beruflich etwas kürzerzutreten. Soll ich Mona bitten, Ihnen etwas zu essen zu bringen, dann können Sie sich anschließend hinlegen?«
Er nickt.
»Und dann sorgt sie dafür, dass jemand Sie morgen früh abholt?«
»Um sechs?«
»Ja, um sechs. Einverstanden?«
Er nickt wieder. Fühlt sich wie ein Idiot.
»Würden Sie bitte das Hemd aufknöpfen, dann horche ich Sie noch kurz ab.«
Er zieht das Hemd aus, und sie horcht ihn ab. Bittet ihn, tief Luft zu holen. Anschließend bittet sie ihn, mit den Augen einem Stift von rechts nach links und zurück zu folgen, ohne den Kopf zu drehen. Leuchtet mit einer kleinen Lampe in seine Augen.
»Nein«, sagt sie und steckt das Stethoskop in die Kitteltasche. »Es scheint alles in Ordnung zu sein. Ich denke nicht, dass Sie sich Sorgen machen müssen. Dann sage ich Mona Bescheid, dass sie Ihnen einen Happen zu essen bringt?«
»Ja, das wäre nett.«
Da die Tische im Speisesaal bereits abgedeckt worden sind, isst er auf seinem Zimmer. Ein neuer Eintopf, diesmal mit Fisch und Krabben. Reis statt kleiner Kartoffeln. Er stellt fest, dass er einen Riesenhunger hat, und bekommt einen Nachschlag. Irgendeine Creme als Nachtisch. Die Mahlzeit wird ihm weder von Mona noch Ellen
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