Am Abend des Mordes - Roman
es gelingt ihr, die Worte zu einer verständlichen Mitteilung zusammenzufügen und herauszuhören, dass er zufrieden klingt. Ein wenig unsicher vielleicht, aber im Grunde genommen zufrieden.
Sie denkt, wie seltsam es doch ist, dass alles, ein ganzes Leben, in nur einem Augenblick auf den Kopf gestellt werden und sie trotzdem sitzenbleiben und es betrachten kann. Alles beobachten kann, als ginge es sie nichts an. Aber vielleicht erlaubt er sich auch nur einen Scherz mit ihr – das wäre dann allerdings das erste Mal, denn Arnold Morinder ist nicht in der Lage, anderen einen Bären aufzubinden. Ebenso wenig kann er witzig oder ironisch oder zweideutig sein. Wenn er etwas sagt, geschieht es, um zu unterstreichen, dass sich etwas so verhält und nicht anders. Es ist eine Eigenschaft, die sie an ihm immer zu schätzen gewusst hat. Arnold ist fast immer still, aber wenn er den Mund aufmacht, sagt er im Allgemeinen die Wahrheit.
Doch nun versteht sie nicht. Es lässt sich einfach nicht verstehen.
»Sprich weiter«, sagt sie, nachdem sie sicher eine Minute geschwiegen haben. »Ich komme nicht richtig mit.«
Sie sieht ihm an, wie sehr er darauf gewartet hat, dass sie ihn bitten würde. Es ihr zu erklären. Sie sieht zudem, dass er sowohl zufriedener als auch betrunkener wirkt, als gut für ihn ist.
»Du meinst, dass du es nie kapiert hast?«
Es ist das dritte oder vierte Mal, dass er sich darüber wundert. Sie fordert ihn mit einem Kopfnicken auf weiterzusprechen. Sie hat es nie kapiert, was glaubt er eigentlich? Er räuspert sich, spuckt ins Gras.
»Verdammt«, sagt er. »Es passierte ganz spontan. Ich kannte ihn ein bisschen, wusstest du das?«
»Du kanntest Harry?«
»Kannte ist vielleicht zu viel gesagt. Ich bin ihm ein paarmal begegnet. Wir haben ein bisschen gepokert … mit Ziggy und Staffe und denen …«
Sie entgegnet nichts. Ist ganz damit beschäftigt, seine Worte so zu verknüpfen, dass sie zu einer völlig anderen Geschichte passen. Zu etwas, was sie für eine völlig andere Geschichte hielt .
»Eigentlich nur in dem Jahr«, sagt er. »Ja, dich mochte ich ja schon, als wir noch zur Schule gingen, daran erinnerst du dich, nicht? Wir hatten ja damals schon was laufen, ich habe ja auch andere Bräute gehabt, aber gezählt hast eigentlich nur du, Ellen … verdammt, so ist es immer gewesen.«
Sie hat ihn vielleicht noch nie so viel in einem Atemzug sagen hören, und gleichzeitig hat sie das Gefühl, von ihrem Stuhl abzuheben. Sie schwebt in der Luft, bleibt hängen und betrachtet sie beide gleichsam aus der Vogelperspektive. Sich selbst und ihn. Und der leichte Rausch, den sie spürt, perlt von ihr ab wie Wasser von einer Gans.
»Sprich weiter«, wiederholt sie, und von ihrem neuen Aussichtspunkt aus ist sie auf einmal eine konzentrierte und wachsame Beobachterin. Ihre Gefühle liegen allesamt weggepackt in einem Sack unter dem Stuhl, den sie gerade verlassen hat, obwohl sie weiterhin darauf sitzt.
Arnold leert seine Bierflasche, geht zur Regentonne, fischt eine neue heraus und kehrt zurück.
»Möchtest du es wirklich hören?«, will er wissen, aber das ist nur eine rhetorische Frage, denn man hört, dass er erzählen will. Vielleicht ist es nicht wirklich so einfach, dass es ihm Spaß macht, es zu tun, jedenfalls nicht nur, aber sie denkt, dass er diese Bürde natürlich bereits ziemlich lange mit sich herumschleppt. Wie er das geschafft hat, ist ihr ein Rätsel, aber Arnold Morinder ist ein Rätsel. Wenn sie das nicht schon vorher gewusst hat, weiß sie es jetzt.
Aber warum erzählt er es ihr ausgerechnet an diesem Abend? Es ist unbegreiflich. Oder bloß ein Zufall, vielleicht musste es früher oder später so kommen.
Musste? Früher oder später?
Sie nickt. Sieht sich auf dem Stuhl sitzen und nicken und findet, dass sie ganz ruhig und entspannt aussieht. Vor allem in Anbetracht der Umstände. Arnold trinkt einen Schluck und erzählt weiter.
»Wir haben doch an dem Pool gearbeitet«, sagt er. »Oben auf Groß-Burma. Waren als Fremdfirma für die Leute da, die den Auftrag bekommen hatten … weiß der Teufel, wie die hießen. Für die Zeit nach dem Sommer hatte ich schon einen Job in Göteborg in Aussicht, ich zog also um, bevor … nun ja, bevor du gestanden hast. Verdammt.«
Pause. Neue Mücke, neuer Schlag, neuer Fehlversuch.
»Deshalb habe ich nur in den Zeitungen davon gelesen. Ich habe nie begriffen, warum du den Mord gestanden hast. Warum zum Teufel hast du das getan?«
Weil … denkt
Weitere Kostenlose Bücher