Am Abend des Mordes - Roman
für die Annahme gegeben, dass Harry Helgesson tatsächlich tot war, geschweige denn dafür, dass ihn jemand umgebracht hatte. Weder seine Frau noch die Verwandten auf Groß-Burma fanden die Vermutung abwegig, dass er sich einfach auf und davon gemacht hatte. Seine allgemeine Unzuverlässigkeit war gut dokumentiert, einige seiner wenigen Freunde in der Stadt, mit denen er sich des Öfteren traf und vorzugsweise Bier trank und Karten spielte, schlugen vor, dass dieser Sauhund vermutlich im Lotto oder bei Pferdewetten gewonnen und den Gewinn eingelöst hatte und abgehauen war. Nach Dänemark oder Deutschland oder wohin auch immer. Dass er weder Kleider noch persönliche Gegenstände mitgenommen hatte – nicht einmal seinen Pass –, tja, das war möglicherweise ein bisschen verwunderlich, aber nichts, was einem zu denken geben musste. Hatte man genügend Geld, ließ sich der Rest besorgen – Kleider, Weiber, Schnaps und was man eventuell sonst noch so benötigte –, meinte beispielsweise ein gewisser Ziggy Pärsson, der den Angaben zufolge aus eigener Erfahrung sprach und für Inspektor Barbarotti und seine Kollegen von der Polizei in Kymlinge kein unbeschriebenes Blatt war.
Inzwischen war er allerdings selig entschlummert, am Mittsommerabend 2008 auf einem Campingplatz in Dalarna an seinem eigenen Erbrochenen erstickt.
Das erste Paket – durch das die Ausreißertheorie definitiv widerlegt wurde – hatte Anfang August ein Heidelbeerpflücker gefunden. Kopf und Arme des früheren Harry Helgesson lagen in einem schwarzen Plastiksack, und man konnte ihn schnell identifizieren, woraufhin der Verdacht praktisch sofort auf seine Ehefrau fiel. Sie gestand die Tat bereits bei der zweiten Vernehmung, einen Tag nach dem makaberen Fund. Gab zudem bereitwillig Auskunft darüber, wo sich der Rest ihres Ehemanns finden lassen würde. Zwei weitere Säcke, einer mit den Beinen, einer mit dem Rumpf.
Barbarotti blickte in den Regen hinaus und versuchte, sich die Szene in seinem Büro vor Augen zu führen. Also kein regelrechter Streit. Mann und Frau, getraut, um einander in guten wie in schlechten Zeiten zu lieben. Wahrscheinlich in den Augen des jeweils anderen gleichermaßen abstoßend. Möglicherweise einige Sekunden der Stille und des Schweigens vor dem Augenblick, in dem der Geduldsfaden riss. Mit einigen unbedachten Worten hatte Harry Helgesson sein Todesurteil unterschrieben. Er hatte sich nicht einmal umgedreht.
Denn wenn er das getan hätte, wenn er den Kopf auch nur ein bisschen gedreht hätte, wäre ihm natürlich aufgefallen, dass seine Frau mit einem erhobenen Hammer hinter ihm stand und fest entschlossen war, damit auf seinen Kopf einzuschlagen.
Und er hätte sich gewehrt. Mit oder ohne Erfolg. Zumindest rasch die Arme gehoben. Oder nicht?
Doch der Schlag hatte ihn mitten auf den Kopf getroffen, hatte mit voller Wucht die Schädeldecke zertrümmert und war ein gutes Stück ins Gehirn eingedrungen. Er dürfte auf der Stelle tot gewesen sein.
Ellen Bjarnebo hatte den Hammer verschwinden lassen, dabei aber keine große Sorgfalt walten lassen. Die Polizei war ihren Instruktionen gefolgt und hatte ihn zwanzig Meter hinter der Scheune in einem Meer aus Brennnesseln gefunden. Mit ihren Fingerabdrücken darauf und allem.
Warum haben Sie die Mordwaffe nicht besser versteckt, wenn Sie schon die Leiche im Wald versteckten? , hatte Kartén wissen wollen.
Daran habe ich nicht gedacht , hatte Bjarnebo erklärt. Es erschien mir nicht wichtig.
Barbarotti blätterte weiter in den Unterlagen und fand das Protokoll der Gerichtsverhandlung. Lehnte sich zurück und las. Die Beschreibung der Ereignisse entsprach darin mehr oder weniger den polizeilichen Vernehmungen. Ellen Bjarnebo blieb dabei, dass sie noch zwei Sekunden überlegt hatte, ehe sie zum tödlichen Schlag ausholte, und man konnte sich wirklich fragen, warum sie das tat. Hätte sie sonst nicht mit Totschlag davonkommen können? Dass sie sich selbst diese Sekunden gab, musste automatisch bedeutet haben, dass ihr Delikt als Mord klassifiziert wurde.
Also, warum? Warum diese Sekunden, die in der Sache nichts änderten ?
Gunnar Barbarotti fand keine Antwort auf diese Frage, zuckte mit den Schultern und wandte sich der Vernehmung Sofia Lindgren-Pallins zu. Der Name kam ihm irgendwie bekannt vor, und kurz darauf erkannte er, warum.
Sie tauchte auch in der zweiten Ermittlung auf. Im Fall Morinder.
Er blätterte erneut und fand die entsprechende Stelle.
Tatsächlich.
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