Am Abend des Mordes - Roman
verloren.
»Du bist sturzbetrunken, Harry.«
Das klang nicht wirklich wie eine Anklage, sie hörte es selbst. Eher, als würde sie ihn bemitleiden. Er schlug erneut zu, traf sie aber nicht. Griff sich an den Magen, stemmte die Hände auf die Knie und stöhnte. Sie drehte sich um und ging ins Haus. Ließ die Tür offen stehen, um ihn nicht noch mehr zu provozieren, als sie es schon getan hatte.
Hörte, wie er sich draußen übergab.
Er hatte achthundert Kronen verloren.
Das entsprach ungefähr dem, was sie an zwei Tagen brutto verdiente, und da war etwas mit seiner Stimme, als er es erzählte. Als wäre er auch noch stolz darauf. Als wollte er es ihrem begriffsstutzigen Schädel gründlich einbläuen. Dass er eine Menge Geld verspielt hatte, das sie natürlich für alles Mögliche besser hätten brauchen können, denn auf Klein-Burma gab es jede Menge Löcher zu stopfen, und nicht nur das: dass er sich betrunken hatte, mit einer hohen Promillezahl im Blut Auto gefahren war, sie geschlagen hatte, auf ihr Fahrrad gepinkelt hatte … und es sein gutes Recht war, das alles zu tun. Sein. Gutes. Recht.
»Achthundert Mäuse! Habt ihr gehört?«
Sie saßen am Küchentisch. Er hatte das Hemd gewechselt, die Hose dagegen nicht. Billy sah ängstlich aus, saß da und wartete auf einen Schlag oder darauf, angeschnauzt zu werden. Er zuckte wie ein Hund, der auf den Stock wartete. Sie hatte Harry eine große Portion Schweinefilet aufgetan, aber er aß nicht; stattdessen rauchte er und hielt sie in Schach. Die Ellbogen auf den Tisch gestemmt, während sein Blick unstet zwischen seiner Frau und seinem Sohn hin und her wanderte und nach Schwachstellen suchte. Nein, nicht nach Schwachstellen, sondern nach kleinen Spuren von Verrat suchte er, winzigen Anzeichen für Ungehorsam und Aufbegehren, die ihm das Recht geben würden zu reagieren. Das Recht und die Pflicht. Was hieß hier reagieren. Wen man liebt, den züchtigt man, er war immer noch ziemlich betrunken, und es fiel ihr nicht sonderlich schwer, seine Gedanken zu lesen.
Sofern man das, was sich im Kopf einer betrunkenen Hyäne regte, überhaupt Gedanken nennen konnte. Wenn ich nur nicht solche Angst vor ihm hätte, dachte sie. Wenn wir nur nicht solche verschreckten Häschen wären, Billy und ich. Das Schwein und die Maus, Häschen? Wenn doch nur …
»Oder nicht?«
Sie hatte keine Ahnung, was er gesagt hatte oder welche Antwort von ihr erwartet wurde. Aber seine Worte waren auch gar nicht an sie gerichtet gewesen, seine Zielscheibe war Billy.
»Ich sagte ODER NICHT !«
Billy kauerte sich zusammen und starrte auf den Tisch.
»Bitte Harry …«, sagte sie lahm. »Kannst du nicht wenigstens …?«
»Halt die Schnauze! Ich rede mit meinem Sohn!«
»Aber können wir nicht …?«
»Meinem dicken … fetten … missratenen … Idiot … von Sohn!«
Er redete gekünstelt langsam, vielleicht, weil seine Gedanken nicht schneller waren, vielleicht auch, um nicht zu lallen.
»Der seine … Zunge … in seinem verdammten Maul … nicht bewegen … kann … um seinem Vater … höflich … zu antworten … wenn er … ANGESPROCHEN wird!«
Er schwang die Faust quer über den Tisch, verfehlte aber wie draußen auf dem Hof erneut sein Ziel. Billy fiel dennoch nach hinten, zog den Stuhl mit sich und krachte auf den Fußboden, was seinen Vater kurzzeitig amüsierte.
»Hahaha! Du verdammte … Missgeburt! Hau ab! Lass uns … in Ruhe!«
Ohne sich für das Essen zu bedanken, verdrückte Billy sich in sein Zimmer. Harry drückte seine Zigarette aus und zündete sich eine neue an.
»Ich glaube, ich decke dann wohl mal den Tisch ab«, sagte Ellen.
Die Entscheidung fiel jedoch erst eine halbe Stunde später. Sie war mit dem Abwasch fertig und überlegte, wo sie hinsollte, um Harry aus dem Weg zu gehen. Er saß im Wohnzimmer auf der Couch und sah fern; zumindest hatte er das vor zehn Minuten getan, und der Fernseher lief noch. Vielleicht war er eingeschlafen, und wenn es so war, konnte sie lange duschen, anschließend ins Bett gehen und hoffen, dass er die ganze Nacht auf der Couch verbringen und somit noch ein Tag in ihrem vergeudeten Leben sinnlos verstrichen sein würde.
Bevor sie sich entscheiden konnte, hörte sie jedoch Billy. Ein langgezogenes Wimmern wie von … wie von einem verletzten Tier. Ständig diese Tierassoziationen, allmählich nervten sie Ellen, aber so war es, und so empfand sie es nun einmal. Sie eilte zu seinem Zimmer und nahm aus den Augenwinkeln wahr, dass
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