Am Abend des Mordes - Roman
entgegenzusetzen und fragte sich, wie das so schnell geschehen konnte. Die alte lebenskluge Ulme war noch dieselbe, das Gras, auf dem er lag, war dasselbe. Die Königliche Bibliothek stand, wo sie stand, und er konnte etwas weiter entfernt noch immer schemenhaft den schnüffelnden Dackel sehen. Die Welt drehte sich weiter.
Trotzdem fiel er haltlos.
Großer Gott, dachte er. Marianne, hilf mir, warum bricht von einer Sekunde zur nächsten alles zusammen?
Ich bin nicht mehr zurechnungsfähig.
Aber es war möglich, vollkommen still zu liegen und sich dem Gefühl zu stellen. Vielleicht gab es dazu auch gar keine Alternative.
Sich ihm zu stellen, zu Boden zu gehen und auszuharren.
Die Trauer öffnete eine Tür zwischen Seele und Körper und wurde rein physisch empfunden. Nach Mariannes Tod hatte er gelernt, dass es so war – so sein konnte. Dass er tatsächlich gelähmt sein konnte, unfähig, aus dieser Position, dieser Gemengelage zu kommen, in der er sich befand. Wie gesagt, versteinert. Weil jede Bewegung, jede Handlung und jeder Gedanke völlig sinnlos waren. Unter dem schweren Druck der Trauer lag man platt. Das Atmen fiel ihm schwer, die Brust wurde zusammengepresst, statt sich zu weiten. War es das, was man gemeinhin panische Angst nannte? Er wusste es nicht. Man konnte nur abwarten, dass es aufhörte, zumindest ein klein wenig nachließ; das Einzige, was man eventuell tun konnte, war beten, aber wortlos, da es keine Worte gab; als ein mehr oder minder heroischer Versuch, die Gedanken zu fokussieren.
Auf sie. Auf die Hoffnung, dass sie in irgendeinem Sinne noch lebte. Darauf, dass es überhaupt so etwas wie einen Sinn gab.
Blinder Glaube, das war es doch, worüber er unlängst mit dem Herrgott gesprochen hatte.
Rönn hatte das Thema angesprochen, erinnerte er sich. Wenn einen die Trauer übermannt, kann die Lösung darin bestehen, sich damit abzufinden und sich von ihr mit voller Wucht treffen zu lassen. Entkommen kann man ihr ohnehin nicht.
So machte er es. Unterwarf sich bedingungslos der Trauer, bedingungslos der Gnade.
Zeit verstrich. Wortlos und unverständlich wirbelten Gedanken durch seinen Kopf, das Laub säuselte schwach, in der Ferne erklang fröhliches Lachen – und dann, nach einer Weile, ein Gedanke an den Brief, den er weiterhin in seiner Jacketttasche trug und mittlerweile auswendig konnte.
Ich möchte nicht, dass du herumsitzt und traurig und passiv und betrübt bist; das hilft weder dir noch den Kindern und macht niemanden froh.
Er seufzte, blieb liegen und schloss, die Hände auf der Brust gefaltet, für eine Weile die Augen. Dann rappelte er sich auf und verließ den Humlegården in Richtung Karlavägen.
29
Der 3. Juni 1989
Sie blieb stehen und betrachtete ihren Mann.
Er räusperte sich und spuckte auf den Kies. Nach rechts und nach links, dann wischte er sich erneut den Mund ab. Anschließend torkelte er weiter, aber statt ins Haus zu gehen, begab er sich zum Fahrradständer. Blieb, ihr den Rücken zukehrend, wieder stehen, und danach dauerte es eine Sekunde, bis sie begriff, was er da trieb.
Er öffnete seinen Hosenstall, um zu pissen.
Ohne weiter nachzudenken, eilte sie hinaus. »Harry!«
»Häh?«
Er drehte sich nicht um, weil er seinen Schwanz schon herausgezogen hatte und zugange war. Urin plätscherte gegen ihr plattes Hinterrad.
»Was zum Teufel machst du da?«
Woher kam nur diese mutige Wut? Sie schoss wie ein Lavastrom von einem Punkt unterhalb des Zwerchfells hoch, und für einige Momente, als sie auf ihn zulief, als sie in zwei Meter Entfernung abbremste und die Hände in die Hüften stemmte, verlieh sie ihr eine Kraft und Stärke, die nicht ihre eigene sein konnte.
Er beachtete sie kaum, zumindest sah es so aus. Pisste seelenruhig zu Ende, schwankte einen Moment, während er den Schwanz verstaute und den Hosenstall zuzog. Wandte sich um und wäre dabei fast umgekippt. Versuchte sie anzusehen und verzog den Mund zu einem Grinsen.
»Was hast du gesagt?«
»Ich habe dich gefragt, was zum Teufel du da treibst?«
Das klang trotz der Schimpfwörter lahm. Stärke und Wut hatten ihr nur leihweise gehört und waren bereits dabei, sie im Stich zu lassen. Angst und Hoffnungslosigkeit füllten die Lücke, als wäre es das Natürlichste auf der Welt. Mist, dachte sie. Hilfe, bitte, kann mir nicht irgendwer helfen?
Er trat zwei Schritte vor und langte zu.
Es war ein miserabler Schlag. Sie wehrte ihn mit den Unterarmen ab, und er selbst hätte fast das Gleichgewicht
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