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Am Abend des Mordes - Roman

Am Abend des Mordes - Roman

Titel: Am Abend des Mordes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H kan Nesser
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Harry nicht mehr vor dem Fernseher saß; vielleicht war er zur Scheune hinausgegangen, wo er eine Art Büro hatte, in dem er oft hockte – und schob die Tür zum Zimmer des Jungen auf. Sie stand einen Spaltbreit offen, das tat sie sonst nicht.
    Er lag zusammengerollt wie ein Embryo auf dem Bett. Die Beine angezogen, die Hände zwischen den Knien. Die Schluchzer, die ihm entfuhren, kamen in Wellen und klangen anders als alles, was sie je gehört hatte, und sie fragte sich, was um Himmels willen passiert war. Billy hatte auch früher schon Prügel aushalten müssen, viele Male, aber diesmal wirkte er anders. Ganz anders. Verzweiflung, dachte sie. Abgrundtiefe, nachtschwarze Verzweiflung.
    »Billy, was ist mit dir?«
    Sie sank auf die Knie und strich ihm übers Haar. Sein Gesicht war tränennass, er öffnete die Augen nicht.
    »Was ist passiert, Billy boy?«
    Er wimmerte einige Male, wischte mit der flachen Hand Rotz und Tränen fort, rieb sich die Augen auf und zeigte zum Schreibtisch.
    Sie sah es sofort und begriff sofort.
    Die Zinnsoldaten.
    Sie waren weg. Sonst standen sie dort immer; zu verschiedenen Formationen gruppiert, nicht nur auf dem Tisch, auch auf den Regalbrettern darüber und der Fensterbank. Gelegentlich ein kleiner Trupp, der auf dem Nachttisch Wache hielt.
    Jetzt war alles leer. Nicht eine kleine Figur. Im ganzen Zimmer nicht. Sie griff nach Billys Hand und drückte sie. Bekam keine Reaktion, spürte aber etwas Raues und Kaltes ihren Rücken hinaufkriechen.

30
    G unnar Barbarotti hatte noch einen Namen nach Stockholm mitgenommen.
    Den Namen einer weiteren Person, die er unter Umständen, falls erforderlich, um ein Gespräch bitten können würde.
    Falls erforderlich ? Was hieß das? Es war Viertel nach vier, und die Angst lag brach. Es blieben ihm noch fünfundvierzig Minuten, bis er Sara und Max im Humlegården treffen würde. Er saß in einem Café in der Brahegatan; hatte seinen Kaffee ausgetrunken, seine Zimtschnecke gegessen und quälte sich mit der Frage.
    Was brachte es ihm?
    Was brachte es ihm, keinen Kontakt aufzunehmen?
    Falls es sich bei all dem um nichts als eine Beschäftigungstherapie handeln sollte, ein Gedanke, der sich immer schwerer abschütteln ließ, tja, dann war es ja wohl besser zu arbeiten, als es zu lassen? Unter einer Ulme tatenlos auf dem Rücken zu liegen, war jedenfalls kein reiner Balsam für die Seele gewesen.
    Die Adresse lag im Stadtteil Midsommarkransen, und bevor er Kymlinge verließ, hatte er sie überprüft und in sein Notizbuch übertragen. Und nun lag dieses Büchlein auf dem schwarzlackierten Cafétisch aufgeschlagen vor ihm.
    Inger Berglund. Eriklundsgatan 12.
    Es stand auch eine Telefonnummer dabei, und nachdem er so lange gezögert hatte, dass er das Buch fast wieder zugeschlagen hätte, wählte er sie.
    Sie meldete sich nach zweimaligem Klingeln.
    Er versuchte, ihr zu erklären, warum er anrief, und Inger Berglund erläuterte ihrerseits, dass sie nicht recht verstand, was für einen Sinn das Ganze haben sollte – war nach einer Weile jedoch bereit, sich am nächsten Tag mit ihm zu treffen.
    Sonntagvormittag in einem von ihr vorgeschlagenen Café in Midsommarkransen.
    In der Speisekammer, um elf. Ginge das?
    In der Speisekammer, wunderte sich Barbarotti.
    Das Café heißt so, informierte ihn Inger Berglund. Es liegt zwei Minuten von der U-Bahn-Station entfernt.
    Das passt mir ganz ausgezeichnet, sagte Barbarotti und wünschte ihr noch einen schönen Samstagabend.
    Es wurde ein schöner Samstagabend. Zumindest für Barbarotti, denn wie es bei Inger Berglund aussah, wurde nie ermittelt, war aber letztlich wohl auch unerheblich.
    Max Andersson erwies sich als überraschend angenehme Bekanntschaft. Er war Saras vierter – oder eventuell fünfter, je nachdem, wie man zählte – Freund. Sie bekannten sofort, dass es sich so verhielt. Seit einem halben Jahr waren sie mittlerweile zusammen, anfangs eher locker, mit der Zeit immer fester, also war es ihnen ernst. Barbarotti hatte mit den jungen Männern in Saras Nähe immer Probleme gehabt, mit Ausnahme eines gewissen Jorge vielleicht, mit dem sie fast ein Jahr lang in Kymlinge zusammengewohnt hatte. Er wusste, dass es mit Beschützerinstinkten und einem Gluckensyndrom zusammenhing, und anscheinend hatte er mit den Jahren dazugelernt. Konfrontiert mit diesem Max empfand er jedenfalls keine spontane Feindseligkeit mehr, im Gegenteil; es handelte sich um einen bescheidenen, etwas stillen Jüngling, der abgesehen

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