Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Abend des Mordes - Roman

Am Abend des Mordes - Roman

Titel: Am Abend des Mordes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H kan Nesser
Vom Netzwerk:
schwieg. Und sie begriff nicht, was für Fragen sie sich stellte. Ankündigen war ein Wort, das sie sonst eigentlich nie benutzte, nicht einmal in Gedanken.
    Die verschwundenen Zinnsoldaten waren der Auslöser gewesen. Sie gingen ihr nicht aus dem Kopf und verlangten Maßnahmen, so musste es sich abspielen. Abspielen? Maßnahmen ? Was denn für Maßnahmen? Vielleicht war das eine Schwester derselben falschen Kraft, die vorhin in sie gefahren war, sie dann jedoch schmählich im Stich gelassen hatte. Oder es war etwas anderes. Die Wirklichkeit hatte einen Schlag abbekommen, und es war schwer zu sagen, was dies hieß. Doch dass sie wartete, wartete und sich fragte, dieses Gefühl ließ sich nicht abschütteln.
    Sie ließ Billy auf dem Bett allein, nachdem sie zuvor eine Weile nach den Soldaten gesucht hatte. Im Kleiderschrank, in den Kommodenschubladen, im Schrank vor seinem Zimmer – obwohl sie wusste, dass es sinnlos war. Billy hatte mit Sicherheit längst an denselben Stellen gesucht. Deshalb lag er jetzt dort. Weil die Soldaten verschwunden waren. Deshalb war er verzweifelter, als sie ihn jemals gesehen hatte.
    Abgrundtief, hoffnungslos. Sie hatte versucht, an ihn heranzukommen, aber keinen Erfolg gehabt. Keine Anzeichen dafür wahrgenommen, dass es ihm etwas bedeutete, wenn sie bei ihm saß. Der Junge war ein Stein aus Stummheit und Schmerz.
    Sie fragte sich, wohin Harry sie geschafft hatte. Zinnsoldaten ließen sich ja nicht einfach kaputt machen. Hatte er sie einfach in den Wald geworfen?
    Sie fragte sich zudem, wohin er selbst verschwunden war. Im Giebelzimmer in der Scheune war er auch nicht, sie ging hinaus und sah nach. Dort trieb er sich ansonsten gerne herum; das Zimmer war als eine Art Büro gedacht gewesen – damals, als der Hof noch ein richtiger Hof war –, es gab darin Regale für Aktenordner und anderes an der Wand und einen großen amerikanischen Schreibtisch. Es war ein ramponiertes und abgewetztes Erbstück. Genau wie ein dazugehöriger Lederstuhl und eine anspruchsvolle Wanduhr, die ebenfalls aus den dreißiger Jahren und der Zeit der Neuansiedlung stammte. Sie stand – wie immer – auf zehn vor zwölf. Das Arbeitszimmer hätte natürlich im Wohnhaus liegen sollen, aber dort war dafür irgendwie kein Platz. Es hatte ihn damals aus irgendeinem Grund nicht gegeben, und es gab ihn auch heute nicht.
    Jedenfalls saß er hier oft. Gab vor, Papiere und Rechnungen durchzugehen, während er Bier trank und rauchte. In Pornoheften blätterte, die er in einer der Schreibtischschubladen verwahrte; sie hatte die Illustrierten vor ein paar Jahren entdeckt, aber darauf verzichtet, sie zu kommentieren. Wenigstens hingen keine leicht bekleideten Damen an den Wänden, nur Kalender von der Genossenschaft und vom Autohaus Kymlinge.
    An diesem Abend war er allerdings nicht an seinem Platz. Kein Harry Helgesson und keine Zinnsoldaten, sie verbrachte ein paar Minuten damit, Letzterem nachzugehen. Das Auto stand noch auf dem Hof, wie er es geparkt hatte; das linke Vorderrad im Blumenbeet, sodass er zumindest nicht in die Stadt zurückgefahren war. Dass Harry Helgesson den Bus nahm, war ein lachhaft absurder Gedanke.
    Unschlüssig blieb sie auf dem Kiesplatz zwischen Scheune und Wohnhaus stehen und sah auf die Uhr; es war Viertel vor neun, aber immer noch taghell. Die Sonne hing im Nordwesten eine Daumenbreite über dem Waldrand und verströmte ein fast übersinnliches Licht auf den Feldern. Nur noch zwei Wochen bis Mittsommer, dachte sie; es war die schönste Zeit des ganzen Jahres, und sie erlebte sie so intensiv, als wäre sie ein Wurm unter einem Stein in einem Straßengraben.
    Aber irgendetwas war passiert . Der Gedanke wollte ihr einfach nicht aus dem Kopf. Haftete an ihr wie eine Zecke und weigerte sich, loszulassen. Die Dinge hatten einen Punkt erreicht, eine Grenze, hinter der es nicht mehr geradeaus weiterging. Die Dinge ?
    Sie schüttelte den Kopf und beschloss, den Eleonora-Weg zu gehen. Er war nach einer gewissen Eleonora benannt, die ihn vor mehr als hundert Jahren in einer Winternacht gegangen und dabei erfroren war. Die Ehefrau eines der ersten Soldatenhäusler, wenn sie nicht alles täuschte. Welche Gründe sie dafür hatte, sich in den Wald zu begeben, überlieferte die Geschichte nicht. Vielleicht hatte sie ein Kind in ihrem Bauch getragen, ein Kind, das dort nicht sein sollte, so pflegte es in Volksweisen zu sein. Der gut ausgetretene Weg – in manchen Abschnitten ein Fuhrweg für Traktoren mit

Weitere Kostenlose Bücher