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Am Anfang des Weges

Am Anfang des Weges

Titel: Am Anfang des Weges Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Paul Evans
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durchgeknallt war. Ich bestellte mir ein Sandwich mit Wurst und Ei und zwei Päckchen Orangensaft, dann setzte ich mich zum Essen in eine freie Ecke. Auf dem Tisch neben mir lag eine Seattle Times , und ich schnappte sie mir, um einen Blick auf die Schlagzeilen zu werfen. Ich sah den Mann nicht, der auf mich zutrat.
    »Hey, ’tschuldige die Störung, Mann, aber könntest du mir vielleicht mit ’nem Frühstück aushelfen?« Ich sah auf. Der Fragende hatte einen buschigen Bart und wilde Haare, die aussahen, als seien sie seit einem Jahr oder noch länger nicht mehr gewaschen worden. Tiefe Narben zogen sich über sein Kinn, aber sie waren nicht so auffällig wie die braunen, warzenartigen Flecken, die seine Haut entstellten, sodass er aussah, als hätte ihm irgendjemand Schlamm ins Gesicht gespritzt. Er trug eine hellblaue Krankenhaushose, die zu locker saß und so tief unter der Taille hing, dass nicht nur sein Gesäß fast entblößt war. Ich fragte mich, warum er sie nicht hochzog, bis ich seine Hände sah. Er hatte keine. Nach dem Aussehen der Stummel zu urteilen, waren sie an den Handgelenken chirurgisch entfernt worden. Was in aller Welt konnte eine Amputation beider Hände nötig gemacht haben? »… Ein großes Frühstück mit Pfannkuchen kostet drei Dollar«, sagte er.
    Noch vor ein paar Tagen wäre mir die Nähe dieses Mannes unangenehm gewesen. Aber jetzt ging es mir nicht so. Ich nehme an, ich empfand eine Art Verwandtschaft. Wir waren beide obdachlos. Ich öffnete meine Brieftasche und zückte vier Dollar. »Hier.«
    »Danke.« Er streckte die Arme aus und nahm die Scheine zwischen seine beiden Stummel. »Das weiß ich zu schätzen.«
    Er ging nach vorn, warf die Scheine auf die Theke und sagte etwas zu der ängstlichen jungen Frau an der Kasse, die es vermied, ihn anzusehen. Ein paar Augenblicke später kam er mit einer Tüte Essen zurück in den Speiseraum. Er setzte sich an den Tisch neben mir. Ich warf einen Blick hinüber, um zu sehen, wie er ohne Hände Pfannkuchen essen würde.
    »Danke noch mal«, sagte er.
    »Keine Ursache«, sagte ich. Ich wandte mich wieder der Zeitung zu, aber ich sah immer wieder zu ihm hinüber. Er hob einen Pfannkuchen mit seinen Stummeln hoch und begann zu essen. Nach einem Augenblick fragte ich ihn: »Wie heißt du?«
    Er wandte sich zu mir um und sah mich an. »Will.«
    »Freut mich, dich kennenzulernen, Will«, sagte ich. Er streckte einen Arm aus. Es war ein bisschen umständlich, aber ich schüttelte ihn. »Was ist denn mit deinen Händen passiert?«
    Meine Frage schien ihn nicht zu stören. »Die Sache ist die, ich mag Bikes«, sagte er.
    »Bikes?«
    »Ja. Mountainbikes. Diamondback. Und Hügel. Hügel haben was. Es ist eine Verlockung, weißt du. Hügel sind eine Verlockung. Ich hatte einen Unfall an einem Hügel. Und die Ärzte, na ja, sie haben mir das Leben gerettet, aber sie mussten mir die hier abnehmen.« Er hob die Arme. »Aber sie haben mir das Leben gerettet. Das ist gut.«
    »Ist es das?«, sagte ich.
    Er sah mich fragend an, dann streckte er die Arme nach unten aus und hob den Pfannkuchen hoch und nahm noch einen Bissen. Auf seinem Tablett standen ein kleiner Plastikbehälter mit Sirup, aber es war offensichtlich, dass er ihn unmöglich selbst öffnen konnte.
    »Soll ich dir den Sirup aufmachen?«
    »Ja. Danke.«
    Ich zog den Deckel von dem Behälter ab und goss ihm etwas Sirup über die Pfannkuchen. Ich wusste nicht, warum ich mich so für diesen Mann interessierte. »Hast du Familie?«, fragte ich.
    Er wandte den Blick ab, und ich bemerkte, dass er kurz zusammenzuckte. »Ja.«
    »Wo wohnst du?«, fragte ich.
    »In der Notunterkunft, wenn es kalt ist.«
    »So wie jetzt?«
    »Jetzt ist es nicht kalt.«
    »Gibt es hier in der Nähe denn eine Notunterkunft?«
    »In Seattle.«
    Ich fragte mich, was er dann in Monroe tat. Natürlich hätte ich mich dasselbe fragen können. Ich war nie auf die Idee gekommen, dass die Obdachlosen, denen ich in der Nähe meiner Agentur in der Innenstadt begegnete, Pläne und Termine haben könnten. »Was machst du tagsüber?«
    »Ich gehe«, sagte er. »Früher war ich oft in der Mall. Aber dort haben sie mich nicht so gern. Manchmal schikanieren mich die Wachschutzleute. Einmal haben sie mich zusammengeschlagen, nur so zum Spaß, deshalb gehe ich da kaum noch hin. Aber ich stelle es mir vor. Es ist leichter, nur so zu tun, als würde ich hingehen. Es ist besser, nur so zu tun als ob. Ich kann bei allem so tun, als würde ich

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