Am Anfang des Weges
altmodischen Schrift:
Wegekapelle
Halte inne. Raste. Bete.
Die Kapelle war ein scheunenartiger Bau, der um eine Art Kirchturm erweitert worden war. Ich überquerte die Straße, um einen Blick hineinzuwerfen. Schmutzig bunte Plastikblumen standen vor dem Eingang. Ich öffnete langsam die Tür, nur für den Fall, dass irgendjemand in der Kapelle sein sollte, aber sie war leer. An der Stirnwand hing ein großes Holzkreuz, das aus fleckigen Kanthölzern gemacht war. Es gab vier Bänke, jede groß genug für zwei Leute.
Ich trat ein und ging nach vorn. Auf der Kanzel hatten Vorüberkommende Nachrichten und Briefe hinterlassen. Außerdem war da ein Stapel mit Musik-CDs, die jemand in der ersten Reihe liegen gelassen hatte: Marvin der Fromme und die heiligen Sänger – Macht fröhlichen Lärm. Es gab ein Bild von Marvin und seiner Band. Sie trugen einheitliche orangefarbene Polyester-Overalls. Marvins Frisur erinnerte an ein Chia-Haustier, dem man einen Achtzigerjahre-Vokuhila-Schnitt verpasst hatte. Außerdem gab es eine große Bibel, ein altes, weißes Lederbuch, das beim 2. Brief an die Thessalonicher aufgeschlagen war:
Er selbst aber, unser Herr Jesus Christus, und Gott, unser Vater, der uns Seine Liebe zugewandt und uns in Seiner Gnade ewigen Trost und sichere Hoffnung geschenkt hat …
In Seiner Gnade ewigen Trost und sichere Hoffnung , dachte ich. Ich schloss die Bibel. Liebe und Trost? In einem plötzlichen Wutanfall schleuderte ich das Buch gegen die Wand. Liebe, Hoffnung und Gnade? Was für ein Witz. Ich verließ die Kapelle und wünschte, ich hätte sie gar nicht erst betreten.
Es dauerte fast eine Meile, bis ich mich wieder beruhigt hatte. Aber die Wut war noch immer da. Dieses Gefühl war immer da gewesen, verborgen hinter einer dünnen Fassade aus Höflichkeit. Die Kapelle hatte meine Wut nur bloßgelegt.
Ich wandte meine Aufmerksamkeit der Straße zu. Der Highway vor mir führte jetzt fast in einer geraden Linie auf den Horizont zu, und ich konnte die Berge in der Ferne deutlich sehen. Wolken und Schnee ließen sie weiß erstrahlen. Bäume standen auf den verschneiten Hängen wie Bartstoppeln. Der Berg war mein Ziel. Das ist ein richtig langer Weg , dachte ich. Ich schüttelte den Kopf und lachte über meine eigene Dummheit. Das war noch gar nichts verglichen mit dem, was ich vorhatte. Wenn ich das ganze Land durchqueren wollte, dann würde ich noch vor etwa einem halben Dutzend Bergpässe stehen, neben denen dieser hier wie ein Maulwurfshügel aussehen würde.
Ich legte etwa zwölf weitere Meilen zurück, bis ich die Stadt Sultan erreichte. Der einzige Weg in die Stadt führte über eine schmale Metallbrücke ohne Fußgängerspur. Die Autos schossen mit fünfzig oder mehr Meilen in der Stunde über die Brücke, und ich war mir unschlüssig, was ich tun sollte. Es sah nach einer sicheren Methode aus, überfahren zu werden. Nur fürs Protokoll: Ich hatte keine Angst vor dem Sterben. Ich hatte Angst davor, fast zu sterben. Das ist nicht dasselbe.
Ich überlegte kurz, was ich tun sollte, dann fand ich eine Lösung. Parallel zu der Highwaybrücke verlief noch eine andere Brücke, eine Eisenbahnbrücke. Fast zu sterben, war bei einem Zug nicht möglich. Züge können nicht ausweichen.
Ich kletterte hinüber auf die Brücke und suchte mir vorsichtig einen Weg zwischen den schweren, rostigen Schienen und den hölzernen Brückenböcken. Die Brücke war ungefähr siebzig Meter lang, und ich kam nur langsam voran. Dennoch erreichte ich die andere Seite ohne den geringsten Zwischenfall. Ich fragte mich, ob das Gleis überhaupt noch benutzt wurde. Ein Teil von mir war enttäuscht. Ich verließ die Gleise und ging weiter in Richtung Stadt.
Bei einem Deli legte ich eine Mittagspause ein. Ich bin mir nicht sicher, ob der Deli überhaupt einen Namen hatte. Falls nicht, war es rückblickend betrachtet eine kluge Entscheidung der Inhaber, ihm keinen zu geben. Ich bestellte mir ein Schinken-Käse-Sandwich mit einer kleinen Portion Kartoffelsalat und eine Cola. Obwohl ich großen Hunger hatte, rührte ich das Essen kaum an. Es schmeckte grauenhaft. Kurz, hätte man die Wahl zwischen einer solchen Mahlzeit und Rasierklingen, würde jeder sehr gründlich abwägen, was von beidem er essen soll. Nachdem ich den Deli verlassen hatte, nahm ich ein Pop-Tart aus meinem Rucksack und aß es im Gehen.
Die nächste Stadt, in die ich kam, hieß Startup. Es war eine dieser Gemeinden, die so klein sind, dass man sie leicht
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