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Am Anfang war das Ende (German Edition)

Am Anfang war das Ende (German Edition)

Titel: Am Anfang war das Ende (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Casta
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dort, bevor es hell wird«, sagt sie.
    Wir wissen beide, dass dies eine Voraussetzung fürs Überleben ist, denn wenn es uns nicht gelingt, Schutz zu suchen, bevor die Sonne aufgeht, sind wir verloren.
    •
    Ein Vogel hat in Omas Himbeerkorb ein Nest gebaut. Sie hat den Korb immer an einem Haken unterm Verandadach hängen, und als sie ihn eines Morgens herunterholt, liegt ein Ei darin. Sie ruft nach mir, und als ich angerannt komme, zeigt sie mir das Ei in dem Korb. Ich sehe ein blaugrünes Ei, das in einem Nest aus kleinen Zweigen liegt. Omas Gesicht leuchtet vor Freude. Unendlich behutsam hängt sie den Korb wieder an den Haken.
    »Jetzt schleichen wir uns ganz leise davon, damit der Vogel seine Ruhe hat«, flüstert sie.
    Geduckt wie zwei Indianer huschen wir über die Veranda und ins Haus. Dort verstecken wir uns hinter den Vorhängen am Küchenfenster und spähen hinaus. Ich sehe einen schwarzbraunen Vogel durch den Garten fliegen und auf dem Verandageländer landen. Dann schwingt er sich hinauf in den Korb. Oma lacht zufrieden.
    »Das ist eine Amsel. Ich hab sie ab und zu in meinem Beet gesehen.«
    »Legen sie immer nur ein Ei?«
    »Wenn wir Glück haben, werden es noch mehr. Dann legt sie jeden Morgen eins.«
    Wir wachen über den Himbeerkorb, als läge ein Schatz darin. Und für uns ist es auch einer. Vor allem für Oma. Sie freut sich so sehr über das Ei in dem Korb. Ab und zu sehen wir den schwarzbraunen Vogel. Wenn er brütet, schauen nur der Schnabel und der Schwanz aus dem Korb. Dann schleichen wir so leise wie möglich vorbei.
    »Wie lange dauert es, bis Junge ausschlüpfen, Oma?«
    »Ungefähr zwei Wochen.«
    Aber die Amsel brütet länger in ihrem Korbnest. Zwei Wochen vergehen und drei und vier. Oma ist nicht mehr so froh, das merke ich. Eines Tages merken wir, dass die Amsel den Korb verlassen hat. Als Oma ihn herunternimmt, sehe ich das Ei darin. Nur ein einziges.
    »Warum ist da kein Junges rausgeschlüpft?«
    »Ich glaube, weil es kein Amselmännchen gibt.«
    Die Amsel in Omas Garten ist der letzte richtige Vogel, an den ich mich erinnern kann. Als die Amsel aufgab, war es, als wäre auch in Oma etwas erloschen. Danach waren nur noch Schwäne übrig und vereinzelte Tauben, die sich auf den Dachböden versteckten.
    •
    Ich habe keine Ahnung, wie lange wir schon unterwegs sind. Wir laufen wie in Trance, unsere Beine bewegen sich wie von selbst, ohne die geringste Anstrengung, ähnlich wie bei rennenden Tieren. Aber die Berge sind immer noch nicht näher. Es ist, als würden sie sich im selben Takt zurückziehen, wie wir uns auf sie zu bewegen. Oder als wäre ihr Bild nur eine Täuschung gewesen.
    Dinah läuft dicht hinter mir, wie mein eigener Schatten. Ich höre ihren Atem und spüre ihn manchmal an meinem Nacken. Der kühle Hauch, der mich da berührt, ist das einzige Anzeichen von Leben in dieser endlosen Wüste. Es ist wie ein Albtraum, denke ich. All das hier ist wie ein einziger langer Albtraum.
    »Da vorne ist doch was!« Dinah hat mich eingeholt und läuft jetzt neben mir her.
    Ich schaue mich suchend um, bis ich verstehe, was sie meint. Ja, da ist etwas. Es sieht aus, als würde es sich bewegen.
    »Ist das ein Tier?«, frage ich.
    Dinah läuft schweigend an meiner Seite. Man kann unmöglich ausmachen, was es ist. Etwas Dunkles, das eine Nuance heller ist als die nächtliche Dunkelheit und sich in eine andere Richtung bewegt als wir. Wie ein kreuzendes Schiff draußen auf dem Meer.
    »Wenn, dann muss es eine Herde sein«, sagt Dinah schließlich.
    »Vielleicht sind das diese Pferde?«
    Wir beobachten die verschwommenen Umrisse, bis sie von der Dunkelheit ausgelöscht werden. Kurz bilde ich mir ein, dass es wie eine Schar Menschen aussieht, die irgendwohin unterwegs ist. Nur dass diese Menschen kleiner aussehen als wir.
    »Möchte nur wissen, wie lange es noch dauert, bevor es hell wird«, murmelt Dinah.
    Als sie das sagt, geschieht etwas Seltsames. Ich hebe den Kopf, um nach Anzeichen von Morgendämmerung Ausschau zu halten, und da sehe ich die dunklen Berge nicht weit vor uns. Es ist wie Zauberei.
    »Was zum …«
    Dinah hat es auch gesehen. »Wie ist das denn passiert?«, sagt sie und wird langsamer.
    Ich spähe zu dem Berg, der uns am nächsten liegt. Er erinnert an etwas, das man als kleines Kind im Kindergarten aus Knete gemacht haben könnte. Nichts als ein Klumpen, mit ein paar Abdrücken von Fingern und Daumen.
    Vielleicht sehen wir, dass wir uns den Bergen nähern, weil es

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