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Am Anfang war das Ende (German Edition)

Am Anfang war das Ende (German Edition)

Titel: Am Anfang war das Ende (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Casta
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sie etwas suchen. Manchmal wird sie von langen, trockenen Hustenanfällen geschüttelt. Dann knie ich mich neben sie und nehme sie in den Arm. Ihr ganzer Körper besteht vor allem aus Knochen und Schmutz, und es ist, als wären es nur die verdreckten, schmutzstarrenden Kleider, die sie aufrecht halten.
    »Bist du krank?«, frage ich.
    Das Mädchen schüttelt den Kopf, sagt aber nichts.
    »Wie heißt du?«
    Die Kleine antwortet mit einem erneuten kurzen Kopfschütteln.
    »Weißt du deinen Namen nicht mehr?«
    Sie schüttelt den Kopf.
    »Aber irgendwie wirst du doch genannt?«
    Erneutes Kopfschütteln.
    Behutsam fahre ich mit der Hand über den Wundschorf auf einem ihrer Knie.
    »Tut das weh?«
    Sie hustet kurz und schüttelt den Kopf.
    Ich gleite mit der Hand an dem dünnen Bein entlang bis zum Fuß. Die Haut ist rau und voll vertrocknetem Blut und schlecht verheilten Wunden. Ihre Fußsohle fühlt sich hart an wie ein Panzer. Die Kleine reagiert nicht, als ich sie vorsichtig kneife.
    »Ihr seid schon lange hier, hab ich recht?«, frage ich.
    Sie nickt, und ich sehe, dass sie all ihren Mut zusammennimmt.
    »Dürfen wir jetzt bei dir wohnen?«, fragt sie.
    »Wo habt ihr denn bisher gewohnt?«
    Sie zögert kurz. Dann hebt sie den Arm und zeigt über die Felder in die Richtung, wo die Ruinenstadt liegt.
    »In der Stadt?«
    Das Mädchen schüttelt den Kopf. »Im Abfall«, sagt sie.
    »In den Ruinen? In dem, was von der Stadt übrig ist?«
    Sie schüttelt wieder den Kopf. »Draußen«, sagt sie.
    Ich überlege kurz.
    »Habt ihr auf den Müllbergen gewohnt?«
    Sie nickt.
    »Dürfen wir jetzt bei dir wohnen?«, fragt sie.
    Ich nicke, lege die Arme um das Kind und drücke es an mich. Nach einer Weile spüre ich, wie der kleine Körper sich langsam entspannt. Plötzlich fängt das Mädchen an zu weinen. Ich spüre, wie ihr Körper erzittert, bevor sie endlich losschluchzt. Sie schluchzt herzzerreißend, und ich bin mir fast sicher, dass ich genau dieses Weinen schon früher gehört habe.
    »Jetzt bist du bei mir«, flüstere ich.
    Als die Kleine nicht mehr weint, befreie ich mich vorsichtig von ihr, gehe ins Haus und hole den abgegriffenen Stoffhund. Ihr Gesicht leuchtet auf, als sie ihn sieht.
    »Ich hab mir gleich gedacht, dass er dir gehört«, sage ich.
    •
    Benjamin unterscheidet sich von den anderen. Er verschwindet stundenlang auf langen Wanderungen über die Felder. Wenn er zurückkommt, sind seine Wimpern von der starken Sonne versengt. Einmal gehe ich zu ihm hin und lege ihm den Arm um die dünnen Schultern.
    »Warst du das damals, der die Maiblumen verkauft hat?«, frage ich.
    Da sieht er mich mit ernsten braunen Augen an und schüttelt den Kopf. »An die Zeit davor kann ich mich nicht erinnern.«
    Ich schweige und blicke auf die Felder hinaus, wo vereinzelte vertrocknete Unkrautstängel wie Ausrufezeichen aus dem Boden ragen, als wollten sie die Verlassenheit der Landschaft unterstreichen. Es ist spät auf Erden, denke ich.
    •
    Benjamin ist vor allem mit zwei anderen ungewöhnlichen Kindern zusammen, die sich Hänfling und Vendela nennen und mir gleich ans Herz wachsen. Hänfling ist dünn und mager, ja, in dem intensiven Sonnenlicht wirkt er fast durchsichtig. Aber er sieht auf eine Weise lieb aus, wie nur wenige Menschen es tun. Irgendwie
gütig.
Vendela ist ein hochaufgeschossenes, dünnes Mädchen mit einem schmalen Gesicht und langen braunen Haaren, die ich ihr entwirrt und zu einem dicken Zopf geflochten habe. Dieser Zopf ist jetzt ihr ganzer Stolz, sie dreht sich immer wieder im Kreis, um einen Blick darauf zu erhaschen, wie eine Katze, die ihren eigenen Schwanz jagt. Vendela zwinkert mit den Augen, als wäre sie kurzsichtig und bräuchte eine Brille, aber nach einer Weile merke ich, dass es nur eine Eigenart von ihr ist, ein Tick.
    Was Hänfling und Vendela von den anderen unterscheidet, ist nicht nur ihre ruhige Art, sondern auch ihr Aussehen. Sie haben helle, eisblaue Augen, was inmitten all dieser schwarzäugigen Kinder eigenartig wirkt.
    •
    Abends sitzen wir in der Küche am Tisch, den wir mit einem Brett verlängert haben, das Dinah in einem Schrank aufgestöbert hat. Gabriel zeigt Hänfling, wie die Kamera funktioniert, und nach einer Weile darf Hänfling sie selbst halten und eine kurze Sequenz in der Küche filmen. Hinterher schaut er fasziniert zu, als Gabriel die Szene für ihn abspielt. David, Dinah und ich sitzen während des Essens bei den Kindern. Das kleine Mädchen isst mit den Fingern

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