Am Anfang war das Wort
Israel war, ein Student an der Universität, der mit der hebräischen Sprache kämpfte und noch kein einziges Gedicht veröffentlicht hatte, fuhr er einmal nach Wien, um seine Mutter zu besuchen. Er hat mir mehr als einmal erzählt, wie er einen russischen Flüchtling traf, der ihm einige Blätter mit den Gedichten Ferbers in die Hand drückte, und wie er dann die Schrift entzifferte. Sie müssen verstehen, daß Gedichte, die in einem Arbeitslager versteckt worden waren, viel Zeit brauchen, bis sie redigiert und zum Druck fertig sind. Von meinem Fachbereich her weiß ich, wieviel Zeit man in diese Papierfetzchen investieren muß. Die Tatsache, daß die Gedichte mittelmäßig sind, vielleicht sogar ein bißchen primitiv, hinderte Scha'ul nicht daran, sie schon deshalb zu bewundern, weil sie von einem jungen Mann in einem sowjetischen Arbeitslager geschrieben worden waren, in den fünfziger Jahren, auf hebräisch. Das reichte, um ihn zu beeindrucken. Er hat die Frage nach ihrem künstlerischen Wert überhaupt nie gestellt, in diesem Fall ist er von seiner üblichen Gewohnheit abgewichen. Wissen Sie, ich habe ihm einmal Gedichte eines blinden jungen Mannes gegeben, der bei mir studierte, und er hat sie mir mit höflicher Verachtung zurückgegeben. Da haben die Umstände offenbar nichts genützt, weil er kein Student von ihm war. Ido hat eine Frage gestellt, die eigentlich selbstverständlich ist: ob historische Bedingungen höher anzusetzen sind als die üblichen Kriterien für Poesie, und es war auch der passende Ort für diese Frage. Aber wer hätte Ido dafür umbringen können? Tirosch ist doch selbst tot, und Ferber auch.« Sie lächelte vor sich hin, als handle es sich um einen privaten Witz, dann verdunkelte sich ihr Gesicht. »Tuwja«, sagte sie zögernd, dann fuhr sie mit sicherer Stimme fort: »Tuwja hätte versucht, Ido von seinem Fehler zu überzeugen, er wäre wütend gewesen, er war wütend, aber Tuwja kann keiner Fliege etwas zuleide tun, und ganz bestimmt ist er nicht raffiniert genug, um an Preßluftflaschen herumzumanipulieren. Der junge Mann, der mich gestern und vorgestern befragt hat, hat mir davon berichtet. Er wollte wissen, ob ich eine Ahnung vom Tauchen hätte.« Sie ließ ein schnaubendes Kichern hören. »Aber um auf Tuwja zurückzukommen: Er ist eine tragische Figur, aber in einem ganz anderen Sinn.« Wieder zog ein Schatten über ihr Gesicht. »Täuschen Sie sich nicht in ihm, er ist ein komplizierter Mensch mit großen Qualitäten, Sie dürfen nicht auf billigen Klatsch reinfallen.« Sie versank in Gedanken. Dann erhob sie sich mit einem tiefen Seufzer. »Es wird Zeit, daß ich zu meiner Arbeit zurückkehre«, sagte sie und sammelte mit erstaunlicher Geschwindigkeit ihre Papiere und die beiden alten Bücher, die unter ihnen vergraben waren, ein, warf die Zigarettenkippe in den Aschenbecher und schritt, ohne noch etwas zu sagen, auf den Lesesaal für jüdische Wissenschaften zu.
Michael kehrte zu Tiroschs Gedichten zurück. Wie ein Schüler schrieb er Zeilen ab und unterstrich Metaphern, mit einem Eifer, der ihm selbst unverständlich war. Die Tatsache, daß in der Bücherei alle Werke Tiroschs vorhanden waren, war jetzt ohne Bedeutung. Als er den Lesesaal für jüdische Wissenschaften betreten hatte, war es der Fakultät wegen geschehen. Er wußte zwar, daß er unbedingt in die Welt der Menschen eindringen mußte, die er kennengelernt hatte, daß von da die Lösung kommen würde. Aber je mehr er las, um so deutlicher wurde ihm, daß er dabei nichts erfuhr, was die Ermittlungen weiterbringen würde, sondern daß er sich mit seinem Aufenthalt hier selbst einen Gefallen tat. Aber, erinnerte er sich, es gibt noch die Sache mit Schira , und dabei hat sich Tirosch fast nie mit Prosa beschäftigt. Warum hatte er »Schira – das letzte Kapitel« auf den Zettel geschrieben, den sie auf seinem Schreibtisch gefunden hatten? Wollte er wirklich einen Aufsatz darüber schreiben? Immerhin weiß ich jetzt, daß es dieses letzte Kapitel gibt, aber das ist auch schon alles. Eine innere Stimme, dumpf und erschreckend, sagte ihm, daß er beim Lesen dieses Kapitels noch etwas anderes begriffen hatte, etwas, was in Zusammenhang mit Tuwja Schajs Vorlesung stand, die er morgens gehört hatte. Etwas, was mit Herbsts Drang, der Krankenschwester Schira in das Krankenhaus für Leprakranke zu folgen, zu tun hatte. Es gibt Menschen, die gehen bis ans Ende, dachte er, aber warum hat Agnon das mit Lepra verbunden?
Er
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