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Am Anfang war das Wort

Am Anfang war das Wort

Titel: Am Anfang war das Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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gefragt hatte. Er hatte das Gefühl, daß es hier etwas Wichtiges zu begreifen gab, doch er wußte nicht, was es war. Mehr als alles verwirrte ihn die Ahnung, daß dieses Kapitel etwas Schreckliches, fast Ekelerregendes beschrieb. Und ich verstehe nicht, wie das Ganze mit Tirosch zusammenhängt, überlegte Michael, als er langsam zum Zeitungslesesaal hinüberging, nachdem er die entsprechenden Seiten zum Kopieren markiert hatte.
    Dort, im Zeitungslesesaal, fand er Literaturbeilagen, in denen ein monatelanger Krieg zwischen Tirosch und Aharonowitsch ausgetragen worden war. Am Anfang stand eine akademische Meinungsverschiedenheit über den letzten Gedichtband Amichais, woraus sich dann erbitterte persönliche Angriffe Aharonowitschs auf Tiroschs Art der Kommentierung entwickelten. Es gab sogar einen Beitrag, der eine ausdrückliche Distanzierung von einem Gedicht Tiroschs brachte, neben einer allgemein gehaltenen Kritik (»Es besteht daher keine Notwendigkeit eines weiteren Beweises, um die Mangelhaftigkeit des Gedichts zu zeigen. Die bedeutende Lyrik des Autors wird natürlich nicht in Frage gestellt. Dieses Machwerk jedoch steht auf schwachen Füßen, oder, um es mit den bildhaften Worten des Werkes selbst zu beschreiben: auf schmelzenden Füßen aus Schnee. Ihm fehlt die organische Verbindung der einzelnen Teile, es entsteht kein Funke zwischen Aufbau und Inhalt, man könnte das Ganze als Konglomerat bezeichnen, als Sammelsurium zufälliger Details aus allen Ecken und Enden der Welt ...«). Michael bemerkte den Unterschied zwischen Aharonowitschs Schreibstil und der gelehrten Sprechweise, derer er sich für gewöhnlich bediente, und mußte lächeln.
    Er konnte nicht anders, die Antworten Tiroschs bereiteten ihm Vergnügen. Wieder fiel ihm der Spott auf, das Gift, die kühle, ironische Haltung, die Tirosch distanziert und unverletzlich erscheinen ließ, bevor er dazu überging, die wissenschaftlichen Arbeiten Aharonowitschs als trivial zu bezeichnen. Auch diese Seiten markierte Michael zum Kopieren.
    Schließlich ging er hinüber zum allgemeinen Lesesaal, wo er von der Bibliothekarin begrüßt wurde, einer rundlichen, gutmütigen Brünetten, die sich noch aus seiner Zeit als Student an ihn erinnerte. Sie gab ihm mit einem liebenswürdigen Lächeln den Stapel Bücher, die er bestellt hatte – alle waren da –, und so hatte er drei Ausgaben der Weißen Gedichte von Tirosch zur Verfügung, und zwei Ausgaben von Tuwja Schajs Buch über Tiroschs Gedichte. Er fing an, darin zu blättern. Das Vorwort hatte nicht die geringste persönliche Note, in ihm würdigte Tuwja das Werk des Dichters und seine Sonderstellung innerhalb der israelischen Lyrik. »Eine ganze Generation von Dichtern«, stand da, »sieht sich der literarischen Tradition verpflichtet, die Tirosch begründet hat.« Dann entdeckte er die Widmung: »Für Scha'ul, wenn er es für wert hält.«
    Sofort fiel Michael ein, was Maja über ein Buch erzählt hatte, das T S. Eliot an Ezra Pound geschickt hatte, mit der Widmung »Für Ezra Pound, wenn er das möchte«. Auch an Majas Reaktion erinnerte er sich, an das Blitzen in ihren Augen, als sie gefragt hatte: »Findest du diese Widmung nicht wunderbar?« Nein, das fand er nicht. Auch jetzt hielt er Tuwja Schajs Widmung für eine vollständige Selbstaufgabe Tirosch gegenüber, eine Selbstaufgabe, die in ihm Zorn und Unbehagen weckte.
    Er verließ den allgemeinen Lesesaal, setzte sich vor das riesige bunte Fenster von Ardon, zündete sich eine Zigarette an und streckte die Beine aus. Er ignorierte den stechenden Blick eines bekannten Professors, der an ihm vorüberging und demonstrativ zu dem Schild »Bitte nicht rauchen« hinüberschaute, und streifte die Asche in dem einzigen Aschenbecher in der Eingangshalle ab.
    Ein seltsam süßer Zigarettenduft, der vom anderen Ende der Stuhlreihe kam, stieg ihm in die Nase. Er drehte den Kopf und sah Schulamit Zelermaier, eine Zigarette im Mund und in der Hand etwas, das wie ein wissenschaftliches Manuskript aussah. Auf dem Stuhl neben ihr lag ein Stapel Papiere. Sie saß mit gespreizten Beinen da, so daß man unter ihrem blauen Rock die dicken Schenkel sehen konnte. Er sah das Profil ihres runden Gesichts unter den ungekämmten grauen Locken. Mit einem lauten Seufzer knallte sie das Manuskript auf den Nachbarstuhl und drehte den Kopf in seine Richtung. Ihr Blick blieb an ihm hängen, und für einen Moment zeigte sich Verwirrung auf ihrem Gesicht. Dann, als sie ihn erkannte,

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