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Am Anfang war das Wort

Am Anfang war das Wort

Titel: Am Anfang war das Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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beschloß, ihn auch Juval zu zeigen, sobald er aus dem Wasser zurückkam. »Gleich nachdem sich der Taucher ein paarmal im Wasser gedreht hatte, zeigte sich eine Störung in der Sauerstoffzufuhr, die einen Notaufstieg zur Wasseroberfläche erforderlich machte, damit er atmen konnte«, hieß es in dem Artikel, und Michael las mit wachsender Konzentration. »Bei einem Blick auf den Unterwasserdruckanzeiger stellte er während des Atmens über den Regulator einen Druckabfall von 100 atm auf fast Null fest.«
    Michael Ochajon schaute auf seine Uhr: Das Training sollte in einer Viertelstunde zu Ende sein. Er stand auf und ging näher zum Ufer: Der Tauchclub war voller Leute. Keiner von ihnen paßte so auf seinen Sohn auf, dachte Michael erschrocken, und dann sah er die in einen schwarzen Gummianzug gekleidete Gestalt, die von zwei Männern aus einem Boot getragen und auf den Strand gelegt wurde.
    Seinen ersten Gedanken, den an Juval, schob er sofort zur Seite, denn der junge Mann, der sich die Maske vom Gesicht zog, war nicht Gai, der Lehrer, der seinen Sohn begleitete, sondern Motti, ein anderer Tauchlehrer, den er am Abend zuvor kennengelernt hatte. Bei ihm war eine Frau in einem Taucheranzug, vermutlich eine Kursteilnehmerin, dachte Michael. Von seinem Platz aus konnte er die Gesichter der beiden nicht erkennen, doch etwas an der Art, wie sie sich über den am Boden liegenden Körper beugten, deutete auf eine Katastrophe hin.
    Dieses Gefühl verstärkte sich noch, als Michael beobachtete, wie Motti mit einer schnellen Bewegung sein Tauchermesser hervorzog und den Taucheranzug des am Boden Liegenden aufschnitt. Die Frau rannte zum Büro hinüber, einem kleinen Steinhaus, nicht weit von dem Platz, wo Michael lag.
    Motti begann mit Mund-zu-Mund-Beatmung, und Michael konnte die Augen nicht abwenden. Plötzlich fand er sich, ohne es beabsichtigt zu haben, dicht neben den beiden und wartete darauf, daß sich die Brust heben und senken würde. Aber nichts geschah. Zusammen mit Motti zählte Michael im Geist die Atemzüge.
    Es war ein junger Mann. Sein Gesicht war rosa und geschwollen.
    Oberinspektor Ochajon, der bei den Fällen, die er untersuchen mußte, schon viele Leichen gesehen hatte, hoffte noch immer, daß es ihm eines Tages gelingen würde, ebenso abgestumpft zu sein wie die Polizisten und Privatdetektive im Fernsehen. Jedesmal erschrak er wieder, im nachhinein, über das Schwindelgefühl, die Übelkeit, die Angst und manchmal auch das Mitleid, das ihn packte, wenn er vor einer Leiche stand, ausgerechnet dann, wenn wissenschaftliche Konzentration von ihm verlangt wurde. Nichts von alledem wurde hier von ihm erwartet, tröstete er sich, als er klar erkannte, daß alle Wiederbelebungsversuche zwecklos waren.
    Die Frau kam zurück, begleitet von einem jungen Mann, der einen Arztkoffer in der Hand trug. Michael trat näher heran, er achtete nicht auf die innere Stimme, die ihn darauf hinwies, daß er im Urlaub war und ihn das alles nichts anging.
    Ein paar Leute versammelten sich bereits um den auf dem Sand ausgestreckten Taucher. Der Arzt befreite ihn von der Ausrüstung, legte die Maske in den Sand, riß den Taucheranzug auf und begann mit der künstlichen Beatmung.
    Jetzt konnte Michael den Hals sehen, geschwollen und aufgeschwemmt wie die Knöchel der alten Frauen, die die vollen Körbe vom Markt schleppen. Der Arzt drückte mit schnellen, sicheren Bewegungen auf den weichen Hals, lokkerte den Druck, drückte wieder. Plötzlich stand Usi neben ihm und rief mit Panik in der Stimme: »Schon gut, kommt, bringen wir ihn in die Druckkammer.« Der Arzt schüttelte den Kopf, ohne ihn anzusehen, und sagte: »Das nützt nichts. Die Druckkammer müßte so groß sein, daß man ihn auch beatmen könnte. Schau doch, wie stark vergrößert seine Pupillen sind, schau dir den Hals an, er hat schon subkutane Emphyseme, ich bin sicher, daß innere Organe gerissen sind.«
    Und zu seinem Entsetzen sah Michael, wie ein dünnes Rinnsal von Blut aus den bläulichen Mundwinkeln über das Kinn lief, und dann, während eine Welle von Übelkeit über ihm zusammenschlug, hörte er den Arzt etwas von Intubieren sagen. »Ich bezweifle, daß es hilft, aber wir haben nichts zu verlieren«, sagte er, während er geschickt ein Röhrchen in die Luftröhre schob. Michael, wie Juval, der als Kind auf merkwürdige Weise von eben jenen Dingen angezogen worden war, die ihn am meisten ängstigten, fühlte nun ebenfalls den Zwang, näher zu treten, die

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