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Am Anfang war das Wort

Am Anfang war das Wort

Titel: Am Anfang war das Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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ungläubig anschaute und fragte: »Du kennst das wirklich nicht? In deinem Alter?«, nachdem Michael zögernd gefragt hatte, was da im Hintergrund gespielt wurde.
    Bis heute konnte er Schwanensee von Tschaikowsky nicht hören, ohne diese Verlegenheit zu empfinden.
    Die Gespräche wurden stets von der Mutter geführt. Sie zog den Vater mit hinein, der schließlich, wenn man ihn darum bat, aus seiner Kindheit in Europa erzählte und von seinen Reisen in die weite Welt. Diese Erinnerungen, die Erinnerungen beider Eltern, waren geprägt von einer humorvoll und leichtherzig dargestellten Armut, und Michael, der damals so alt war wie Juval heute, kehrte nach diesen Besuchen mit den widersprüchlichsten Gefühlen ins Internat zurück, erregt von der persönlichen Begegnung mit einer anderen Welt, die so anders war als die eigene, in der er aufgewachsen war, und mit jenen beiden Menschen, dem großen Künstler, der sich als naiver, fast kindlicher Mensch ohne die geringste Arroganz entpuppte, schüchtern und zugleich außerordentlich freundlich, und mit der Mutter, deren deutliche sexuelle Ausstrahlung Michael zugleich verwirrte und anzog.
    Heute war das alles verblaßt. Die Gefühlsstürme von damals hatten sich in versöhnliche und anrührende Erinnerungen verwandelt.
    Aber damals! Welch brennenden Neid hatte Usis Zuhause bei ihm erweckt, und wie wenig hatte er damals Usis wilde, unerschöpfliche Zornausbrüche gegen seine Eltern verstanden, ebensowenig wie die Tatsache, daß er aus einem solchen Elternhaus kommen und trotzdem so losgelöst von ihm sein konnte.
    Wie sehr hatte ihn das gespannte Verhältnis Usis zu seiner Mutter erstaunt, ein Verhältnis, dessen Wurzeln Michael einfach nicht erkannte. Bei den wenigen Malen, wenn seine eigene Mutter zu einer Elternversammlung kam, hatte er sich ihretwegen geschämt. Es war ihm peinlich, daß sie sich sichtbar unbehaglich fühlte, daß sie die Lehrer schweigend anstarrte. Er hatte sich geniert, wenn sie auf direkte Fragen mit einem stammelnden Hebräisch antwortete, hilflos und auf Übersetzung angewiesen, und ihr warmes Lächeln lächelte. Er empfand Scham und Wut wegen dieser Scham, hilflose Wut auf sich selbst, weil er sich schämte, und auf seine Lehrer und Freunde, die Zeugen dieser Scham waren. Damals dachte er, wenn er zur Elternversammlung Usis Mutter mitbringen könnte oder dessen angesehenen Vater, dann wäre sein Leben ganz anders verlaufen.
    Es dauerte Jahre, bis er das Spannungsfeld verstehen konnte, in dem sich Usi befand, die schwere Last des berühmten Vaters, den Abscheu, den er gegen seine Mutter empfand, und die gleichzeitige Liebe zu ihr, der er nicht gewachsen war, den Erwartungen, die in ihn gesetzt wurden, und dem Impuls, diese Erwartungen zunichte zu machen, und die Unfähigkeit, sich anzupassen. Letzten Endes, überlegte Michael und nahm sein Handtuch, während Usi etwas von Schock murmelte und er selbst sich vollkommen losgelöst von allem fühlte, was um ihn herum geschah – letzten Endes hat sich Usi, jedenfalls auf seine Art, angepaßt. Seit Jahren lebte er in Eilat und leitete den Tauchclub, und er war zu einem Fachmann geworden, was Flora und Fauna des Roten Meeres betraf, obwohl er sich nie die Mühe gemacht hatte, irgendein Studium zu absolvieren.
    Zwar hatte er eine Freundin nach der anderen, dachte Michael müde, doch auch darin schien Usi einem festen Muster zu folgen. Gestern hatte Michael seine neueste Eroberung kennengelernt. Die Frauen in seinem Leben kümmerten sich um ihn und erhielten die Freundschaft auch nach der Trennung aufrecht, und immer waren sie es, die die Trennung herbeiführten. Noa, die zweite Frau, die Mutter seines einzigen Sohnes, hatte Michael einmal in Jerusalem aufgesucht. Usi habe so viel über ihn erzählt, sagte sie entschuldigend, sie habe nie verstanden, warum sie aufgehört hätten, einander zu treffen. So hatte er zu seinem Erstaunen erfahren, daß Usi noch an ihn dachte. Bis zu der Begegnung mit Usis zweiter Frau hatte er angenommen, daß sein Freund ihn vollkommen aus seinem Bewußtsein gelöscht hätte, daß er ihm gegenüber nur Haß und Scham empfinde. In dem kleinen Cafe, in dem er mit Noa saß, hörte er zum ersten Mal, daß Usi voller Zuneigung von ihm sprach. Sie verstand einfach nicht, »warum ihr euch die ganzen Jahre nicht gesehen habt, als gäbe es irgendein schreckliches Geheimnis«. Michael hatte geschwiegen und ihr sein charmantestes Lächeln geschenkt, und Noa war in der Tat hingerissen und

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