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Am Anfang war das Wort

Am Anfang war das Wort

Titel: Am Anfang war das Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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Pupillen zu betrachten, die immer größer wurden, den Blutstrahl, den Schnitt, den der Arzt gemacht hatte, um den Schlauch einzuführen. Das alles sah er, und es war ihm neu.
    Noch nie zuvor habe ich die Leiche eines Tauchers gesehen, dachte er erstaunt und versuchte, mit Hilfe der »wissenschaftlichen Methode« die Übelkeit zu beherrschen. Diese Methode, sich von einem Toten zu distanzieren und »seinen Job zu machen«, hatte ihm einmal ein Pathologe erklärt, als er zum ersten Mal, damals noch Inspektor bei der Polizei, bei einer Obduktion zugesehen hatte. Aber die Übelkeit wurde schlimmer. Der Körper war naß und aufgeschwemmt, die Haut sah aus, als wäre ein Schwamm unter ihr gewachsen, und der rosafarbene Ton der Gesichtshaut – eine überraschende Farbe für einen Toten, dachte Michael – wurde langsam bläulich. Schließlich kniete der Arzt neben dem Kopf des jungen Mannes, drückte seine Augenlider
    herunter, rieb sich die Hände mit Sand und packte seine Instrumente in die Tasche.
    Während der ganzen Zeit stand Usi in hilflosem Schweigen da. Als der Krankenwagen mit dem Notarzt kam, schüttelte er sich und half, den aufgedunsenen Körper auf die Bahre zu heben.
    Der Notarzt sprach ein paar Worte mit dem behandelnden Arzt, und Michael schaute abwechselnd über das blaue Wasser und auf seine Uhr, während er ganz automatisch, aus Gewohnheit, dem Gespräch lauschte, das hinter dem Krankenwagen geführt wurde. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Er war ganz rosa, Sie können die leichte Rötung noch an der Mundschleimhaut sehen, ich weiß nicht, es sieht aus wie eine Kohlenmonoxydvergiftung, aber vielleicht irre ich mich auch. Sie sollten es überprüfen.«
    Michael hörte die Antwort, ohne sie aufzunehmen, bis auf den letzten Satz: »Gut, wir werden es untersuchen.« Die Fachausdrücke sagten ihm, wie üblich, nichts.
    Die Tür des Krankenwagens wurde geschlossen und die Sirene eingeschaltet. Ihr Heulen erschreckte die Leute am Strand, als ob dieses Geräusch in die Straßen von Großstädten gehörte. Ein Schauer lief über Michaels Rücken, und er fragte Usi, der neben ihm stand und mit dem Fuß in den Sand stieß, was eigentlich passiert war.
    Vor zwanzig Jahren hatte er Usi Rimon, den Leiter des Tauchclubs, zum letzten Mal gesehen. Sie hatten zusammen die Schulbank gedrückt, und der Lehrer hatte Usi eine äußerst düstere Zukunft vorausgesagt. Trotz der Jahre, die vergangen waren, hatte Usi den jungenhaft begeisterten Gesichtsausdruck nicht verloren, an den sich Michael aus seiner Schulzeit noch genau erinnerte. Er, Michael, lebte damals im Internat, während Usi nur zum Unterricht in die Schule kam – und selbst das nicht mit allzu großer Regelmäßigkeit – und anschließend nach Hause zu seinen Eltern ging. Michael wurde oft dorthin eingeladen. Bis heute erinnerte er sich an die Ehrfurcht, die er beim ersten Treffen mit Usis Eltern empfunden hatte: Der Vater war ein berühmter Maler, zu dem viele Menschen gepilgert kamen und dessen Bilder vom Meer in allen Museen Israels und in vielen Museen der ganzen Welt gezeigt wurden. Usi selbst behandelte seinen Vater mit einer Mischung aus distanzierter Ehrerbietung und sanftem Mitleid, die Michael damals nicht verstand.
    Die Mutter war viel jünger als ihr Mann, und häufig genug erwähnte sie die Tatsache, daß sie erst achtzehn Jahre alt gewesen war, als Usi, ihr einziger Sohn, zur Welt kam. Mit unverhohlenem Vergnügen empfing sie die Freunde, die Usi nach Hause brachte, und war überhaupt außerordentlich interessiert an dem gesellschaftlichen Leben ihres Sohnes.
    Anfangs war Michael am Sabbat zu ihnen eingeladen worden, nachmittags, zu einem Ritual mit Kaffee und gekauftem Kuchen. Der Vater saß immer im Wohnzimmer, hinter einem riesigen Schreibtisch, und die Mutter lag auf dem rotbezogenen Sofa, das an einer holzgetäfelten Wand und dem Schreibtisch gegenüber stand, und erinnerte Michael an eine römische Matrone.
    Im Zimmer herrschte eine außergewöhnlich kultivierte Atmosphäre. An den Wänden stand eine ganze Bibliothek mit Büchern in den vier Sprachen, die Usis Vater fließend beherrschte, wie die Mutter nie versäumte zu betonen. In den Regalen hinter dem Schreibtisch standen die großen Kunstbücher, die Michael immer so gerne anschauen wollte.
    Immer erklang Musik, eine Musik, die er nicht kannte, und in jenem Zimmer hatte er auch zum ersten Mal Beschämung über seine Bildungslücken empfunden, als Usis Vater ihn verwundert und

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