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Am Anfang war der Seitensprung

Am Anfang war der Seitensprung

Titel: Am Anfang war der Seitensprung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amelie Fried
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Milchglasscheibe. Leute mit mehr Geld hatten aufwendig gearbeitete Sonderanfertigungen mit teuren Sicherheitsschlössern, Schnitzereien und Speziallackierungen. Die glücklichen Eckhausbesitzer mit den etwas größeren Grundstücken hatten in der Regel einen angebauten Wintergarten, der das Wohnzimmer erweiterte.
    Seit ich in der chaotischen Bude von Rilke, Hartmann und Nicki wohnte, erschien es mir zunehmend unverständlicher, wie man sich in diesen genormten Kästchen wohl fühlen konnte.
    Ich liebte die verwinkelten Gänge der Altbauwohnung, deren Stuck verblichen und deren Parkettboden verkratzt war. Ich mochte diese Spuren vergangenen Lebens und ertrug sogar die tausend Provisorien und Mängel, die mich früher rasend gemacht hätten.
    Im Klo mußte man auf einen Hocker steigen, um an die Spülung zu kommen, und der Klorollenhalter hing nur an einer Schraube. In der Küche durfte man ein Fenster nicht öffnen, weil es sonst aus den Angeln brach. Das Badezimmer konnte man nicht abschließen, dafür gab eine Schicht abbröckelnder Ölfarbe den Blick auf Original-Fliesen aus den zwanziger Jahren frei. Die uralten Armaturen hatten zwar Liebhaberwert, leider kam das Wasser aber nur tropfenweise aus der Dusche.
    Auch das in der gesamten Wohnung herrschende Durcheinander fand ich eher pittoresk als lästig.
    Der Boden im Bad war zum Beispiel immer mit Kleiderbergen bedeckt, die darauf warteten, in die Waschmaschine gesteckt zu werden. Da die vier über der Badewanne gespannten Leinen aber nicht ausreichten, den Ansturm zu bewältigen, entstand ein Dauerstau.
    Der Flur war mit einer Sammlung ausrangierter Kinositze möbliert, die Hartmann irgendwo günstig erworben hatte, daneben standen zwei alte Schaufensterpuppen und ein Flipper, dessen Herkunft im Dunkeln lag.
    Die Ausstattung der einzelnen Zimmer entsprach dem unterschiedlichen Temperament ihrer Bewohner. Der Ordentlichste war zweifellos Hartmann. In seinem Zimmer standen richtige Möbel, selbst gebaut, wie ich erfuhr. Hartmann ging als einziger einer geregelten Tätigkeit nach, er arbeitete in einer Schreinerei. An den Wänden hingen wunderschöne filigrane Radierungen, die Urzeitmonster, Echsen und anderes Getier darstellten.
    »Aus meiner künstlerischen Phase«, erklärte er wegwerfend.
    »Warum hast du nicht weitergemacht?« fragte ich.
    »Brotlose Kunst. Ich hab keine Lust, nachts Taxi zu fahren.«
    Nicki war von den dreien der größte Schlamper. In seinem Zimmer stand zwar die teuerste Anlage, er hatte die meisten CDs und den besten Computer, aber um von der Tür zum Fenster zu kommen, wäre ein Schaufelbagger nötig gewesen.
    »Dabei könnte mir mein Alter locker mal die Putzfrau rüberschicken«, beklagte er sich.
    »Und warum will er nicht?«
    »Aus pädagogischen Gründen«, lachte Nicki.
    Er war einziger Sohn aus reichem Elternhaus und nach der Scheidung bei seinem Vater, einem Textilunternehmer, aufgewachsen. Er war verwöhnt und launisch, konnte aber auch charmant und großzügig sein, so daß man ihm nie lange böse war. Hin und wieder leierte er seinem alten Herrn einen größeren Betrag aus dem Kreuz und spendierte eine Party oder ein teures Essen für alle. Er jobbte in einer Casting-Agentur, weil er sich nicht entschließen konnte, ob er studieren und in die väterliche Firma einsteigen oder nach Südostasien auswandern sollte.
    Rilke lag, was das Chaos betraf, im Mittelfeld. Sein Zimmer war das spartanischste von allen und weil wenig drin war, konnte keine allzuschlimme Unordnung entstehen. Warum er überhaupt nichts an den Wänden hängen hätte, wollte ich von ihm wissen. »Weil Abbildungen meine Phantasie behindern«, erklärte er.
    Beim Dichten wolle er auf weiße Wände sehen, die würden zu Projektionsflächen seiner inneren Bilder werden. Rilke stammte aus einem kleinen Kaff in der Nähe von Würzburg, was er nach Möglichkeit verschwieg, und hatte zwei ältere Schwestern, die »voll langweilig« drauf waren, wie er sich ausdrückte.
    »Was meinst du mit voll langweilig?« fragte ich ihn.
    »Mann, Kinder, Eigenheim, Zweitwagen und Urlaub aus dem Katalog.«
    »Also so wie ich«, stellte ich fest.
    Er lächelte sein unwiderstehliches Jungenlächeln.
    »Stimmt, genau wie du. Echt komisch, daß du so anders bist. In deinem Inneren bist du wahrscheinlich …«
    »… eine Rockerin«, vollendete ich seinen Satz.
    Oder eine hoffnungslose Traumtänzerin, dachte ich, als ich meinen jugendlichen Geliebten ansah. Er war so wild, so wunderbar und

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