Am Anfang war der Seitensprung
Zunge raus. Ich konnte es auf den Tod nicht leiden, wenn Rilke mir das Gefühl gab, mir trotz seines jugendlichen Alters an Lebenserfahrung voraus zu sein.
Siebzehn
Ich saß mit einer Horde Zwanzigjähriger in einem dunklen, engen Keller und kam mir dämlich vor.
Eine Underground-Band spielte merkwürdige, abgehackte Melodien, dazwischen lasen junge Dichter ihre Texte.
Eine Jury hielt nach jeder Darbietung Schilder mit Noten zwischen eins und zehn hoch, wie beim Eiskunstlauf.
Poetry Slam nannte man diese Art von Veranstaltung, die sich unter Rilke und seinen Freunden zunehmender Beliebtheit erfreute. Je ausgefallener die Orte waren, wo die Slams stattfanden, desto besser. Leerstehende Fabrikhallen, Abbruchhäuser, U-Bahn-Schächte – kein Ort konnte schräg genug sein. An diesem Abend hatte ich Glück gehabt, wir befanden uns im Keller einer leerstehenden Villa, es gab Strom, Getränke und halbwegs bequeme Stühle.
Die Darbietungen waren sehr unterschiedlich; manche der jungen Poeten delirierten im Stil der frühen Beatniks, es gab peinliche Selbstentblößungen, unbeholfen formulierte Gesellschaftskritik und bewußt provokante Texte, die an die Ekelgefühle des Publikums appellierten.
Ich fühlte mich mal wieder zu alt. Die meisten Leute hier waren jung wie Rilke oder sogar jünger, und ich kam mir vor wie auf einem Kindergeburtstag. Ich haßte dieses Gefühl, ausgeschlossen zu sein. Ich sehnte mich danach, zu Rilkes Welt zu gehören, Erfahrungen mit ihm zu teilen.
Trotzig versuchte ich deshalb, mich wie Mitte Zwanzig zu fühlen. Aber heute gelang es mir einfach nicht.
Ein dickes Mädchen mit Rasta-Locken und abgerissenen Punk-Klamotten stellte sich mitten auf die kleine Bühne und schaute mindestens eine Minute lang schweigend mit halbgeschlossenen Augen ins Publikum. Ich erwartete, daß gleich ein wütender, post-punkiger Wortsalat aus ihr herausbrechen würde. Statt dessen sagte sie mit heller, leiser Stimme:
»Ihr fürchtet die Explosion eines Atomkraftwerkes.
Ich fürchte die Explosion in mir.«
Dann ging sie von der Bühne. Manche lachten, ein paar Leute klatschten, die meisten schwiegen irritiert. Die Jury hielt ihre Schilder hoch. Die Bewertungen lagen zwischen zwei und acht; auf drei Schildern war nur ein diagonaler Strich zu sehen.
Jetzt war Rilke dran. Mit schlaksigen Bewegungen ging er zu einem Hocker, vor dem ein Mikrofon aufgebaut war.
Er legte einige Blätter Papier darauf ab und putzte in aller Ruhe seine Nickelbrille. Ich lächelte in mich hinein.
Das Brilleputzen kannte ich. Es war eine rituelle Handlung, mit der er sich beruhigte.
»Ist er nicht süß?« hörte ich eine weibliche Stimme hinter mir flüstern.
Ein kalter Hauch überzog meinen Rücken. Vorsichtig drehte ich mich um. Zwei Mädchen mit halblangen, dunklen Haaren, die eine im schwarzen Rolli, die andere mit einer hellen Wildlederjacke über dem T-Shirt, steckten die Köpfe zusammen. Ich kannte sie nicht.
Was soll’s, dachte ich, sie hat ja recht. Rilke hatte sich hingesetzt und las eines seiner Gedichte.
»Ein Augenblick der zwei in ein Magnetfeld führt Einverständnis unausgesprochen, unaussprechbar Selbstverständlichkeit durch nichts in Frage gestellt Empfindungen so leicht und zart und schützend Gegenwart die sich selbst genügt Begrenzung die kein Leiden schafft Unsere Sprache ist Sehen mit geschlossenen Augen.«
Ich hörte ein Seufzen.
»Warum schreibt mir niemand solche Gedichte?« sagte die Stimme hinter mir.
Es rührte mich, daß ausgerechnet Rilke, der beschlossen hatte, nicht zu lieben, meistens Liebesgedichte schrieb.
Vielleicht konnte er das ja nur, solange er nicht liebte, sondern nur verliebt war, so wie zur Zeit in mich.
Es war wohl ein Gefühl, über das er sich manchmal selbst ärgerte, das gegen seinen Willen von ihm Besitz ergriffen hatte und das ihm manchmal fast lästig zu sein schien. Er war dann ruppig und ungeduldig, zog sich ohne äußeren Anlaß von mir zurück und näherte sich irgendwann wieder mit der ganzen Weichheit und Zartheit, deren er fähig war.
Ich litt in den Momenten seiner Zurückweisung und blühte auf, wenn er wieder auf mich zukam. Mit einer Duldsamkeit, die mich selbst erschreckte, unterwarf ich mich seinen Bedürfnissen und Launen. Ich glaube, es war meine Verläßlichkeit, die ihn immer wieder zu mir zurückbrachte. Ich war das stabile Element in seinem Leben, in dem sich alles ständig änderte: Die Trends, die Jobs, die Menschen, die Gefühle.
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