Am Anfang war die Nacht Musik
sind. Und trocken wie die vertrockneten Insekten, die sie im Winter in den Winkeln des Hauses findet. Das sie den Rüssel nennt. Die Schmetterlingsflügel, Spinnenbeine, dietrockenen Hornissen, Bienen und Wespen sammelt sie in einem steinernen Döschen. Ihrem Naturalien-Kabinett. Das sie das Rüsselchen nennt. Die Hände des Hausmädchens ihrer Eltern tauft sie insgeheim: Winterhände . Sie gehorchen den Wünschen der Eltern. Als seien ihre, Marias Wünsche, Wünsche zweiter Klasse. Blöde blinde Bauernwünsche.
Soll sie sagen, Kalines Hände sind wie die ihrer Freundin. Mit der sie durch den Garten tobte. Auf Bäume kletterte. Bis sie von den Bäumen fielen und umfielen. Vor Lachen, vor Müdigkeit. Zusammen in der Wiese lagen. Sich die Hände hielten. Einander die Haare aus dem Gesicht strichen.
Herumflacken, schimpft die Mutter. Flackt ihr schon wieder im Gras herum. Herumflacken hat Grasflecken zur Folge. Tückisch, tückisch. Sie sieht sie nicht und spürt sie nicht. Nur ihre bösen Folgen: Bei Tisch wird sie einfach auf ihr Zimmer geschickt.
Kaline aber hat sie nach dem ausgiebigen Frühstück an der Hand genommen und sie zum Behandlungszimmer gezogen. Maria versuchte sofort, aus dem Klang ihrer Schritte einen bekannten Klang herauszuhören. Eine Stelle, an der sie gestern schon vorbeikamen. Als Mesmer sie und die Eltern durchs Haus führte.
Und wie sie den Teppich wiedererkennt, den sie überqueren. Und wie Kaline ihre Hand plötzlich nach unten zieht. Und sie dort etwas Feuchtes, Warmes, Weiches, Seidiges trifft. Etwas, das sich nicht fassen lässt. Laut hechelt. Sich stürmisch windet.
Der Hund des Doktors sei schwarz, sagt Kaline. Pechschwarz. Und wie Maria schnell ihre Hände über den Kopfzieht. Und merkt, dass sie nicht mal hinaufreichen zur Spitze ihrer Frisur. Aber Hundeschnauzen und Menschenhände gehören getrennt. Soll sie sagen, wie leid es ihr tut für den Doktor. Weil, wenn schon ein Hund, weiße Hunde, wie die Mutter sagt, schöner seien als schwarze und überhaupt edler, treuer, lieber.
Und wie sie sich dann weiterziehen lässt von Kaline. Und nun jeder Schritt begleitet wird vom Vier-Pfoten-Geklacker. Und wie dann plötzlich noch ein Geräusch dazukommt. Ein neues Geräusch. Und sie sofort stehen bleibt. Wissen will, ob Kaline das auch höre.
Und Kaline sich sofort sorgt, Ob dem Fräulein nicht wohl sei?
Doch, doch. Dem Fräulein sei sehr wohl wohl. Nur habe sie das Gefühl, sie träume. Sie höre diese Klänge. Und das könne bedeuten, dass ihre Ohren sich selbstständig gemacht hätten. Wäre nicht das erste Mal. Und ziemlich bedrohlich. Ihr Körper versuche ja immer wieder, sich selbstständig zu machen. Ohne sie zu beachten. So produziere er mitunter Töne in ihrem Kopf. Eine Art Musik. So wie jetzt eben, in diesem Moment. Und sie sagt: Klänge wie von weit her. Sphärische Klänge. Wie nicht aus dieser Welt. Worauf Kaline schallend lacht und sie weiterzieht.
Und die Töne immer lauter werden. Bis Kaline eine Tür öffnet. Und Maria klar wird, dass sie nicht träumt.
Sie hört Kaline flüstern, Wenn der Doktor Glasharmonika spiele, dürfe man nicht stören. Sie wollte ja auch gar nicht stören. Sondern diese Töne hören, die verfliegen, ehe sie richtig zu sich gekommen sind.
Und dann ein vielstimmiges Verklingen. Welchen Ton hat sie eigentlich zuletzt gehört? Sie könnte den Doktor jetzt fragen …
Aber dann wird er zweifeln an ihrem Gehör, das doch unerhört richtig ist … Sie hat es gewusst: Sie dreht sich im Kreis. Seit einer geraumen Weile, seit mindestens …
Sechstes Kapitel
24. Januar, 12 Uhr 30
Ob sie jeden Tag so herumlaufe, unterbricht er ihr Schweigen.
Sie zuckt die Achseln, lächelt.
Er bittet sie, mit ihm zu sprechen. Ab jetzt. Er wolle ihre Stimme hören. Was sie sage. Und den Klang. Das helfe. Ob sie also jeden Tag so herumlaufe.
Dass sie weiter schweigt, hat er erwartet. So wie er erwartet, dass sie sprechen wird, sobald er sich hinter sie stellt. Die Arme hebt, bis seine Hände über ihr schweben – über ihrem Haarturm.
Eigentlich bräuchte er jetzt das Bibliotheksstühlchen, das, wenn man es aufklappt, ein dreistufiges Leiterchen wird. Es steht im Salon, hinterm Vorhang. Nur – unterbrechen will er nicht. Auch wenn es Kraft kostet, die Hände oben zu halten. Verfluchte Kaline.
Er streicht seitlich am Fräulein herab durch die Luft. Gut, die schweren Arme sinken zu lassen. An diesem Strom entlang, dem Strömen zwischen seinen Händen und ihrer
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