Am Anfang war die Nacht Musik
sich keine Sorgen machen. Es hat nichts mit den Augen zu tun. Und: Morgen kommen Ihre Eltern.
Morgen, sagt sie. Du meine Güte. Morgen. Schon. Das ist aber bald.
Ja, sagt er. So bald habe er damit auch nicht gerechnet.
Ob sie dann von hier fortmüsse?, sagt sie.
Sie müsse gar nichts, sagt er. Das sei jetzt der dritte Durchbruch. Und keineswegs der drittgrößte. Auch wenn, was nun auf sie zukomme, kein Zuckerschlecken sei. Die entscheidenden Schritte habe sie bereits getan.
Und die kleinen?
Ihre Augen seien zu allem fähig, sagt er. Zunächst aber müssen sie wieder Sehen lernen. Sie müssen sich beleben. Sie müsse ihre Muskulatur trainieren. Dabei sei er gern behilflich. Es käme einiges auf sie zu.
Hilfe, sagt sie. Was denn noch?
Die Tatsache, dass sie sehen könne, werde für die meisten etwas Ungewöhnliches sein. Etwas wie ein Wunder. Und wie er die Lage einschätze, würden viele sie sehen wollen. Um sich mit eigenen Augen von ihrer Sehkraft zu überzeugen.
Ob man ihr das denn ansehen könne?, sagt sie.
Nicht kirre machen lassen, sagt er. Es braucht mehr als die Kraft der Muskeln, die Welt so zu sehen, dass sie einen erkennt.
Auch wenn sie wisse, sagt sie, dass er das Gegenteil wolle, jetzt mache er ihr aber Angst.
Angst?, sagt er. Die dunkle Angst vor dem Licht? Oder die grelle vor dem Dunkel?
Elftes Kapitel
28. März 1777
Sie glauben, Aufmerksamkeit und Stille sind eins, doch sie täuschen sich.
Sie atmen. Sie räuspern sich. Unter ihrem schwankenden Gewicht ächzen und knarren Stühle und Sofas. Selbst wenn sie nur sitzen, rascheln die Kleider und Perücken, mit denen sie sich bedecken. Und wo sie sich nicht bedeckt halten, haben sie Hände, Ohren, Augen. Ihre unersättlichen Augen, auf sie, Maria, gerichtet.
Der Fortschritt der letzten Woche hat nichts als Rückschritte gebracht. Am Klavier. Beim Üben. Bei Haydn. Bei Koz̧eluch oder Bach, Händel, Mozart, Salieri. Bei den Tonleitern.
Sie setze an, hatte sie Mesmer erklärt, und habe plötzlich nicht genügend Finger zur Verfügung. Bringe sie ihre Hände aber vor der Brust zusammen, fänden sich alle zehn Finger in feinster Ordnung ein und berührten einander aufs Zärtlichste. Streichle sie den Hund, so seien auch da alle zehn dabei. Bemühe sie sich aber (ebenso zärtlich) um Haydn, dann fände sie links nur noch drei plus den Daumen. Und rechts seien die Triolen im zweiten Satz gerade noch zu bewältigen. An den Sextolen aber, für die sie nichts als sieben kleine Finger fände, scheitere sie jedesmal gnadenlos, wenn nicht schon an den Zweiunddreißigsteln im ersten Satz.
Mesmer empfahl ihr, sie solle weiterspielen. Mit offenen Augen, offenen Ohren und offenem Herzen. In Ruhe.
Sie tat es. Spielte mit offenen Augen und offenen Ohren, bis sich unter den Missklängen ihr Herz zusammenkrampfte. Erneut stürmten ihre Finger hoffnungsvoll voran und stürzten erneut ineinander wie ein Trupp nach allen Seiten auseinanderstrebender Kutschpferde. Und so kläglich klang es auch. Bei aller Technik.
Und an welchen ihrer vielen Spezialisten sollte sie sich nun wenden?
Carl Philipp Emanuel Bach beschrieb das Problem in seiner Klavierschule mit keinem Wort.
Sie wandte sich an Riedinger.
Der behauptete, solche Zeiten zu kennen, in denen einem nichts gelinge. Da dürfe man sich nicht entmutigen lassen. Sie sei Musikerin mit Leib und Seele. Das werde sich auch nicht ändern.
Das tat ihr so gut, dass sie es wagte, ihn zu fragen, ob er ihr beim Komponieren zur Hand gehen wolle. Sie habe so viel Musik im Kopf, und es sei quälend, nichts notieren zu können.
Er sagte sofort zu.
Mesmer hatte weiterhin wenig zu ihrem Problem zu sagen und nichts, was geholfen hätte. Sätze wie: Machen Sie ruhig Fehler. Stolpern Sie ruhig. Das legt sich wieder.
Und wenn nicht?
Irrelevant.
Und was bitte ist relevant?
Dass Sie sehen können.
Sie wollte nichts sehen. Sie wollte spielen. Sie legte sich eigenhändig die Augenbinde an. Ihr Fingerproblem ließ sich so schnell und eigenhändig nicht ablegen. Wenn sie den Haydnspielen wird, wird sich das Fingerproblem in den Vordergrund spielen. Sie wird Fehler machen. So, wie sie die ganze Woche schon Fehler machte, den ganzen Tag. Nicht nur am Klavier.
Seine Ungeduld, schon gleich, als ihr Vater ihr die Stirn küsste. Wie flüchtig er sie berührte. Und wie er sofort wieder Abstand nahm. Ebenso die Mutter. Als seien ihre Küsse nicht ernst gemeint. Die Frage hingegen, warum Marias Augen verbunden, warum das
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