Am Anfang war die Nacht Musik
Kartoffelküchlein. Eingemachte Aprikosen und Preiselbeeren. Strudel. Vanille-Milch. Sauer eingelegtes Gemüse. Und einen Korb frischer Semmeln. All das, was ihm immer Appetit machte. Leider kommt die Erfahrung oft zu kurz. So auch an diesem Tag. Viel zu kurz. Er hat den ersten Bissen kaum geschluckt, da klingelt es an der Tür. Mitein und derselben Geste hält er Anna zurück und lässt Kaline rennen. Das kostbare Tuch flattert an ihm vorüber zur Tür.
Eine Gruppe, meldet sie. Mehrere Herren und ihre Damen. Wollen dem Doktor gratulieren. Das Wunder-Fräulein sehen.
Sollen reinkommen. Anna strahlt unheimlich.
Sie hebt die Kaffeetasse, als wär’s ein Glas vom Roten. Seine nicht zu bremsende Frau. Er kann Kaline gerade noch zurückpfeifen. Bevor Anna die ganze Bagage zu Tisch bittet.
Die Herrschaften müssen warten. Da, wo die Patienten warten. Im Besucherraum. Oder wiederkommen.
Das Fräulein sitzt neben ihrer japanischen Puppe am Klavier und schlägt Töne an. Hält sie und fährt mit den Fingern die Tasten auf und ab. So wie sie einst begonnen hat. Vor Jahren. Ihre Augen hat sie, in der Hoffnung, es wirke sich auf die Hände aus, verbunden.
Abgesehen von Fehlern beim Spielen habe sie den leichtesten, empfindsamsten Anschlag, den er seit Mozart kenne, sagt er. Trotzdem müsse er sie unterbrechen. Sie, die große Hoffnung. Nicht nur für ihn. Ein Licht. Ob man sie sehen dürfe. Ob sie sich zeigen werde. Die Leute verlangten nach ihr.
Dass sie ablehnt, hat er erwartet.
Wer nicht spielen könne, hasse Publikum. Er habe ihre Augen gesund gezaubert, und jetzt seien ihre Hände krank. Begreife das, wer wolle. Sie begreife es nicht. Hundepfoten, sagt sie, verstehe sie womöglich besser als die eigenen Hände. Die große Hoffnung sei hoffnungslos. Erloschenes Licht.
Das Mesmer, mit wenigen magnetischen Strichen, wieder zum Glühen bringt.Gemeinsam sind sie vor die Leute getreten. Haben Hände geschüttelt. Geschichten erzählt. Denn jeder erhofft sich eine Geschichte aus dem Mund der Hoffnung. Und da Geschichten im wirklichen Leben nie enden, fangen die Besucher an, die Geschichte weiterzuspinnen. Und manche eignen sich Marias Geschichte an.
Zugedeckt hat man sie. Begraben. Unter Haufen von Wörtern, Sätzen, Fragen, Gedankensplittern, Geratter, Gestammel. Satzbau und Satzabbau.
Wie alles an ihnen klebt. Sie einengt.
Noch mehr Leute, die ihn sehen wollen. Den berühmten Doktor. Und sein Wunder-Fräulein. Wer nicht selbst kommt, schickt Bedienstete. Mit Grüßen, Wünschen und Geschenken.
Nur von der Kaiserin nichts. Kein Wort. Kein Wunsch. Kein Geschenk.
15. April 1777
Es ist wie im Theater. Sie treten auf, die Leute applaudieren. Sie verbeugen sich, die Leute applaudieren. Als seien sie eine Truppe Schauspieler oder Gaukler. Der Hund, der Doktor, das Mädchen. Drei Farben. Schwarz der Hund, Purpur der Doktor, das Mädchen in Weiß. Mit schlichter Haube auf dem Kopf, solange die Haare noch nicht lang genug sind. Und die Leute klatschen begeistert und reißen einander mit. Nicht nur den Hund. Alle drei. Sie sind stets zu dritt. Maria will es so. Und so soll sie es haben.
Die Leute bringen Brote mit, Kuchen, Obst. Und Getränke. Wie in der Oper. Maria spielt Klavier für sie. EinfacheStückchen für einfache Leute. Für das leicht zu beeindruckende, Fehler verzeihende Volk. Die Fehler werden weniger. Er täuscht sich nicht. Und sicher ist: Wenn sie singt, macht sie gar keine.
Ich war ein armes Würmchen . Sie spielt mit ihrem alten Erfolg. Der aus ihrem Mund unwiderstehlich klingt. Wehmütig. Wahrhaftig. Er hat ihr zu anderen Liedern geraten. Sie meint, von allen komme dieses am besten an. Bei den Leuten. Wer gut ankommt bei den Leuten, kommt bei sich selbst gut an. Applaus tröste sie über den Verlust ihrer Hände.
Den momentanen Verlust, korrigiert er.
Ja, wiederholt sie sofort. Den momentanen Verlust.
Sie ist flink wie ein hochreaktiver Wirkstoff. Dabei leicht zu lenken. Wie schnell sie von ihm annimmt. Ohne jeden Widerstand. Auch das hält er sich zugute. Wie sie profitiert von ihm. Das ist sein Erfolg.
Den momentanen Moment gelte es zu überleben, fährt sie fort. Wer den Moment überlebt, lebt weiter. Deshalb seien die Leute und ihr Applaus momentan unverzichtbar. Und das Geklatsche sogar zu genießen. Die Fragen allerdings weniger, mit denen sie einen löchern.
Nicht nur sie. Auch ihn. Sogar den Hund. Während Mesmer fürs Medizinische, Maria für die persönliche Erfahrung zuständig ist,
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