Am Ende der Angst
Straße zu landen.«
»Damals hatte ich schon so viel zur Seite gelegt, dass ich und deine Mutter nicht hätten hungern müssen.«
»Du hattest Glück, dass du schnell wieder aus dem Krankenhaus entlassen wurdest. Bei einer astronomisch hohen Krankenhausrechnung hätte das sicher anders ausgesehen.« Ich konnte das Gerede meines Vaters nicht mehr hören. Er hatte schon zu oft seine Meinung zu dem Thema kundgetan.
»Das ist doch Unfug!«, konterte er. »Wer arbeiten will, muss nicht hungern. Das ist alles faules Gesindel, dem nichts geschenkt werden darf.«
»Es gibt genügend Menschen, die durch eine Krankheit oder einen Krieg aus der Bahn geworfen wurden. Ich kenne jemanden, der hat durch 9/11 seine Frau verloren, danach wurde er psychisch krank, so dass er nicht mehr arbeiten kann. Er lebt auf der Straße, obwohl er arbeiten will, aber er kann nicht. Seine Hände zittern bei jedem lauten Geräusch, er erbricht sich ständig, wenn er Stress hat. Der ist nicht faul. Und erinnerst du dich an Marc, meinen Kumpel? Der hat sich umgebracht, weil er als Kriegsversehrter keine Arbeit mehr fand. Der wollte die Almosen des Staates nicht, aber es hätte ihm sicherlich geholfen, eine richtige Therapie zu machen. Und dann wäre da auch noch George vom Obdachlosenheim. Er ist gesund, aber nicht genügend ausgebildet, weil seine Eltern früher kein Geld hatten, ihn in die Schule zu schicken. Er lebt von der Hand in den Mund, hier mal eine Woche Ernteeinsatz auf den Feldern, da mal ein Anstreicherjob, dann mal einen Tag lang Lkw abladen. Das reicht kaum für ihn, geschweige denn dafür, seine Frau und drei Kinder zu versorgen. Er kommt jeden Tag für eine warme Mahlzeit vorbei, auch er würde sich über mehr Geld vom Staat freuen.«
Ich hatte mich in Rage geredet und bemerkte erst jetzt die großen Augen meiner Gäste.
Meine Mutter räusperte sich als Erste. »Gehst du auch oft auf eine warme Mahlzeit ins Heim oder woher weißt du das?«
Scheiße. Ich hatte mich verplappert.
»Nein, das habe ich nur so gehört.« Ich nahm einen Schluck aus meinem Weinglas.
Fiona wirkte pikiert. »Kommst du deshalb oft erst so spät nach Hause? Was treibst du da?«
»Nichts! Ich bringe den Jungs ein paar Bier vorbei und das war's. Mehr nicht.«
»Ich wusste gar nicht, dass du so eine soziale Ader hast«, meinte mein Vater, wobei nicht ganz deutlich wurde, ob das geringschätzig oder anerkennend gemeint war.
»Ich auch nicht«, sagte Fiona. Brüsk stand sie auf, um den Tisch abzuräumen. Ich schnappte mir ein paar Teller und folgte ihr.
»Es sind nur ein paar Obdachlose, keine Geliebte, falls du das denkst«, versuchte ich, die Sache ins Lächerliche zu ziehen. Doch es funktionierte nicht.
»Darum geht es nicht, Alex«, sagte sie, nachdem meine Mutter ein paar Teller in der Küche abgestellt hatte und wieder im Wohnzimmer verschwunden war. »Es geht darum, dass du mir das nicht erzählst. Wieso sagst du das nicht? Seit wann gehst du dahin? Jeden Tag? Nur einmal die Woche? Warum verschweigst du so etwas?«
Weil ich meine Gründe hatte, aber die konnte ich ihr nicht sagen, wenn ich weiter mit ihr zusammenbleiben wollte. »Weil es nichts Bedeutendes ist. Und weil ich dir doch nicht über jeden meiner Schritte Rechenschaft ablegen muss.«
»Nein, das musst du nicht«, zischte sie. »Aber es wäre schön, wenn ich ein bisschen mehr von dir erfahren würde. Ich kann verstehen, dass du von deiner Zeit in Somalia oder am Golf nicht reden willst, aber wenn du jeden Abend ins Obdachlosenheim gehst, will ich das wissen.«
»Aber warum? Wofür? Das ändert doch nichts an mir ...« Fionas Vater kam herein und brachte eine Pfanne, so dass ich kurz unterbrach. Als er wieder draußen war, hatte ich jedoch keine Lust mehr auf das Thema. »Ich bin wie ich bin, egal, ob du weißt, was ich jeden Abend mache, oder nicht.«
»Ich weiß. Dass ich vielleicht mehr wissen möchte, weil ich mich für dich interessiere und an deinem Leben mehr teilhaben möchte, scheint dir nicht in den Sinn zu kommen. Schade.«
Sie klappte den Geschirrspüler zu und rauschte aus der Küche zurück ins Wohnzimmer. Ich folgte ihr, doch als ich die peinlich berührten Gesichter unserer Eltern sah, war mir die Lust an dem Abend gänzlich vergangen.
»Ich muss noch mal los«, sagte ich. »Ich habe in der Firma etwas vergessen, das muss ich unbedingt holen.«
Fiona antwortete nicht, meine Mutter wollte etwas sagen, doch ich ließ sie nicht zu Wort kommen. Ich nahm meine
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