Am Ende der Treppe, hinter der Tür (German Edition)
Jacke von den Schultern. «Ich hab zu tun!»
«Aber Papa sagt immer, ich darf nicht alleine gucken.»
«Benjamin Blümchen darfst du bestimmt allein gucken, das hast du schon tausendmal gesehen.»
Martha wirft Poppys Jacke achtlos auf einen Sessel – fehlt noch, dass sie deren Klamotten wegräumt –, dann legt sie eine DVD in den Player ein. Sie drückt auf Start und geht ohne ein weiteres Wort in ihr Zimmer.
Am liebsten möchte sie vor Wut irgendetwas zerschlagen, stattdessen stellt sie sich ans Fenster. Noch hat die Birke im Hof grüne Blätter, bald werden sie sich verfärben. Der moosige Stamm ist von Efeu überwuchert. Es sieht schön aus. Aber Martha will nichts schön finden, schon gar nicht dieses Zimmer. Es ist kleiner als ihr altes, aber ruhiger. Einmal ist sie morgens vom Gurren eines Waldtaubenpärchens aufgewacht und wusste erst nicht, wo sie war. In der alten Wohnung hatte sie zwar auch das Zimmer zum Hof gehabt, aber es war viel dunkler gewesen, das Fensterbrett verkrustet vom Dreck der Stadttauben.
Wenn Martha ehrlich ist, will sie auch gar nicht mehr zurück in die Wohnung, in der am Ende alles nach Krankheit gerochen hat. Gestorben war ihr Vater, nachdem ihn der Krebs in einen kahlköpfigen Greis verwandelt hatte, aber nicht zu Hause, sondern im Krankenhaus. Marthas Mutter hatte ihn dort jeden Tag besucht, Martha hatte das nicht gekonnt. Sie wollte ihn auch nicht sehen, als er tot war.
Danach wäre sie am liebsten mit ihrer Mutter zusammen in eine nette kleine Wohnung gezogen. In Jills Haus war sogar eine passende frei geworden. Drei Zimmer, Südbalkon, einfach perfekt. Aber Constanze hatte nur den Kopf geschüttelt und gesagt: «Das kann ich nicht bezahlen, tut mir leid. In dem Haus können wir uns höchstens eine Besenkammer leisten.»
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Martha nie über Geld nachgedacht.
Ihr Vater hatte als Reisejournalist für verschiedene Medien gearbeitet; als er krank wurde, verdiente er nichts mehr. Ihre Mutter ist zwar als Bauzeichnerin in einem Architekturbüro fest angestellt, aber nur halbtags. Es war ein ziemlicher Schock gewesen, als Martha plötzlich feststellen musste, dass sie zwar nicht gerade arm waren, aber dass das Geld gerade für das Nötigste reichte.
Vor einem Jahr hatte Constanze Johannes kennengelernt. In einer Selbsthilfegruppe für Menschen, die einen Angehörigen verloren hatten. Vor zwei Monaten war dann die Bombe geplatzt.
«Es gibt da einen Mann», hatte Constanze Martha an einem Samstagvormittag eröffnet, als sie beim Frühstück zusammensaßen. «Er ist Witwer, hat eine kleine Tochter, und ich möchte gern, dass du ihn kennenlernst.»
«Ich? Wieso?», hatte Martha dumm gefragt.
«Weil wir beschlossen haben zusammenzuziehen.»
Aus dem Wohnzimmer sind außer den Trompetenstößen von Benjamin Blümchen keine Laute zu hören. Das ist verdächtig. Normalerweise kreischt Poppy an immer den gleichen Stellen vor Lachen.
Martha geht über den Flur und öffnet leise die Tür. Poppy sitzt auf dem Boden und kämmt hingebungsvoll die Fransen des Perserteppichs, mit Marthas gutem Kamm. Den Teppich hatte Marthas Vater von einer seiner Reisen mitgebracht, und er ist eins der wenigen Stücke, die sie von ihrem alten Zuhause mit in die neue Wohnung gebracht haben. Martha ärgert sich zwar, dass Poppy einfach ihren Kamm genommen hat, aber es gibt Schlimmeres. Sie will die Tür wieder schließen, da sieht sie, dass Poppy eine Schere nimmt und die Fransen einfach abschneidet.
«Bist du wahnsinnig!» Martha stürzt auf Poppy zu und reißt ihr die Schere aus der Hand. Poppy schaut erst zu ihr hoch und dann auf ihre Hand, von der Blut auf den Teppich tropft. Martha muss sie mit der Schere verletzt haben.
Andere Kinder würden jetzt ein Riesentheater veranstalten, aber Poppy betrachtet ihre Hand wie einen fremden Gegenstand, hebt sie hoch und leckt das Blut ab.
Martha läuft ins Bad und kommt mit einer Packung Pflaster zurück. «Tut mir leid. Tut mir leid, Poppy, das war keine Absicht. Aber du kannst doch nicht einfach unseren Teppich kaputt machen.»
Poppy zeigt auf die restlichen Fransen. «Die sehen aber nicht schön aus. Ganz dreckig.»
«Der Teppich ist alt», sagt Martha und klebt ein Pflaster über den Schnitt. «Alt und wertvoll. Er hat meinem Papa gehört.»
«Jetzt ist dein Papa aber doch tot», sagt Poppy.
«Ja, aber das ist kein Grund, an dem Teppich rumzuschnippeln. Halt still, da muss noch ein Pflaster drauf.»
Unter dem ersten
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