Am Ende der Treppe, hinter der Tür (German Edition)
quillt schon wieder Blut hervor.
«Mein Papa schimpft bestimmt», sagt Poppy.
«Ich hab’s nicht mit Absicht gemacht», wiederholt Martha.
Aber es wird Ärger geben, das weiß sie.
«Wie kannst du nur?», ereifert sich ihre Mutter, als sie nach Hause kommt und Martha ihr den Unfall beichtet. «Der blöde Teppich. Ist doch völlig wurscht, ob da Fransen dran sind oder nicht, aber dass du Poppy mit einer Schere allein gelassen hast, das ist schlimm.»
«Ich hab doch gar nicht gewusst, dass sie eine hat.»
«Du hättest auf sie aufpassen müssen, sie ist gerade mal vier.»
In Martha steigt heiß die Wut auf. «Ich bin nicht euer verdammter Babysitter, merk dir das!»
Sie geht in ihr Zimmer und knallt die Tür zu.
Nach einer Weile klopft es. «Lass mich in Ruhe!», brüllt sie.
«Ich bin’s.» Das ist nicht ihre Mutter.
Johannes öffnet vorsichtig die Tür. «Darf ich?»
Ist ja schließlich deine Wohnung
, hätte Martha am liebsten gesagt.
Er schließt die Tür hinter sich, bleibt aber auf der Schwelle stehen.
Martha wird nie begreifen, wieso sich ihre Mutter ausgerechnet mit diesem unscheinbaren Mann einlassen musste. Die Ärzte, die sie bisher kennengelernt hat, haben alle irgendwie cool und wichtig ausgesehen, aber Johannes wirkt immer wie jemand, der sich für seine Existenz entschuldigen will. Er ist groß und dünn, geht etwas gebeugt und trägt ein Brillengestell, das viel zu wuchtig ist für sein schmales Gesicht.
«Der Schnitt ist nicht weiter schlimm. Vielleicht bleibt eine Narbe zurück, aber das wäre nicht Poppys erste.»
Er lächelt Martha aufmunternd zu. «Ich dachte, das beruhigt dich vielleicht.»
«Tut mir leid», sagt sie widerwillig.
«Und mir tut leid, dass der Teppich deines Vaters jetzt kaputt ist.
Martha zuckt mit den Schultern. «Ist ja nur ein Teppich.»
«Magst du mit uns essen?»
«Keinen Hunger, außerdem muss ich noch Schularbeiten machen.»
«Na, dann … Es gibt Lasagne. Ich heb dir was auf für später.»
Johannes verschwindet. Martha müsste erleichtert sein, aber sie ist es nicht. Ihr wäre fast lieber gewesen, wenn er sie angebrüllt hätte. Dieses verständnisvolle Getue nimmt ihr den Wind aus den Segeln.
Der Geruch von überbackenem Käse und Tomatensauce dringt sogar durch die geschlossene Tür.
Kochen kann die Glatze, das muss Martha zugeben, aber sie denkt nicht im Traum dran, sich mit ihm, ihrer Mutter und Klein-Poppy an den Tisch zu setzen. Sie wird nicht auf Familie machen, nie! Da kann der Hunger noch so groß sein.
Stattdessen setzt sie sich an den Schreibtisch und schlägt das Buch auf, in das sie ihre Hausaufgaben einträgt. Man muss sich allerdings Mühe geben, um zu erkennen, was sie sich notiert hat, denn es verschwindet unter einem Geflecht verschnörkelter Buchstaben, Herzen und Blüten, die ihre Blätter verlieren. Wann immer Martha einen Stift in der Hand hat, fängt sie an – ja was? Kritzeln nennt es ihre Mutter. Aber es sind keine Kritzeleien, es sind kleine Kunstwerke. Wenn man genau hinschaut, kann man die Buchstaben A und M erkennen, zwei sehr schöne Buchstaben, mal einzeln, mal ineinander verschlungen, mal ducken sie sich an den Rand oder ragen über die Begrenzungslinien. A wie
Alexander
und M wie
Miller
. Doch das M könnte genauso gut für Martha stehen und das A für Altenbourg. Es kann kein Zufall sein, dass sie die gleichen Initialen hat wie Alexander Miller, nur umgekehrt.
Umrankt von einer Efeugirlande steht da:
Bis einschließl. 8 . Szene lesen
.
Sie hat versucht, eine altmodische Straßenbahn zu zeichnen, aber das ist ihr nicht ganz gelungen. Das Stück, das sie gerade im Englischunterricht behandeln, ist
A Streetcar named Desire
von Tennessee Williams. Martha findet diesen Titel viel schöner als die deutsche Übersetzung:
Endstation Sehnsucht
. Mit dem Stück kann sie allerdings nicht viel anfangen. Ihre Englischkenntnisse sind eher mäßig, sie muss jedes zweite Wort nachschlagen und kapiert trotzdem nicht, worum es geht. Als es darum ging, welches Stück sie im Unterricht behandeln sollten, hatte sie für
Romeo und Julia
gestimmt. Aber die Jungs waren dagegen gewesen, typisch.
Martha versucht sich auf das zu konzentrieren, was sie da liest, aber es gelingt ihr nicht. Stattdessen denkt sie wie so oft an den Tag, an dem Miller das erste Mal in ihre Klasse gekommen war.
Natürlich war schon vorher über ihn geredet worden, der neue Englischlehrer sollte ein cooler Typ sein, direkt aus New York, doch Martha
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