Am Ende der Treppe, hinter der Tür (German Edition)
wollte keinen neuen Lehrer. Mit ihrer alten Englischlehrerin Frau Hahne-Klein, die alle nur Hühnerklein nennen, war sie eigentlich ganz zufrieden gewesen.
Und dann, an einem Freitagmorgen, war die Tür aufgegangen und Miller hereingekommen. Er hatte schwungvoll seine Aktentasche auf den Tisch geworfen, sie war heruntergerutscht und zu Boden gefallen, er hatte sie lachend aufgehoben und sich beim Aufrichten eine blonde Locke aus der Stirn gepustet. In diesem Moment war es um Martha geschehen gewesen. Es hatte «Peng!» gemacht, wie in einem kitschigen Liebesroman. Sie hatte das noch nie erlebt und war von dem Gefühl völlig überwältigt worden.
Und seither träumt sie.
Ihr Lieblingstraum ist der, in dem sie nach Schulschluss in der Klasse zurückbleibt, um ihre Sachen einzupacken. Miller sitzt am Tisch, schreibt etwas ins Klassenbuch, und plötzlich hört man einen Schlüssel im Schloss.
Miller springt auf, läuft zur Tür und rüttelt an der Klinke. Vergeblich. Der Hausmeister hat die Klasse abgeschlossen. Miller schlägt sich an die Stirn: «Shit, ich hab den Generalschlüssel im Lehrerzimmer gelassen.»
«Haben Sie kein Handy?», fragt Martha.
Miller sieht sie an, zuerst etwas verwirrt, dann leicht verlegen. Er kommt auf Martha zu. Sie steht wie erstarrt. «Doch, ich habe ein Handy. Ich werde auch gleich jemanden anrufen, der uns hier rausholt, aber …»
– an dieser Stelle überlegt Martha immer, ob das wohl die Polizei oder eher die Feuerwehr sein könnte, aber eigentlich ist es völlig egal –
«Aber was?», fragt Martha mit ganz trockenem Mund.
Miller ist jetzt ganz nah, sie kann die kleinen gelben Einsprengsel in seinen dunkelblauen Augen sehen, goldene Pünktchen wie Sterne an einem Abendhimmel.
«Aber erst muss ich mit dir reden!»
Er sieht sie flehentlich an, und Martha möchte sich ihm am liebsten sofort in die Arme werfen, doch sie will den köstlichen Moment noch ein wenig hinauszögern. Sie nimmt ihren Rucksack und sagt gespielt gelassen: «Ja, ich weiß, ich hab die Hausaufgaben nicht gemacht, aber ich hole es nach, versprochen.»
Miller legt ihr seine Hand auf den Arm. «Die Hausaufgaben interessieren mich nicht.»
Martha sieht ihn mit einem koketten Augenaufschlag an. «Nicht? Was interessiert Sie denn dann?»
«Das weißt du doch ganz genau», sagt er mit rauer Stimme. «Du weißt doch ganz genau, dass ich verrückt nach dir bin.»
Bei diesen Worten lässt Martha abwechselnd ihren Rucksack fallen, und sie küssen sich gleich, oder sie schüttelt den Kopf und sagt:
«Sie machen sich über mich lustig, Mister Miller, das ist unfair.»
«Bin ich wirklich nur Mister Miller für dich?», fragt er dann. «Nicht mehr?»
«Doch!», ruft Martha. «Viel mehr!»
Ein Klopfen reißt sie aus ihren Gedanken. «Was ist?», fragt sie unfreundlich.
Ihre Mutter kommt mit einem Teller in der Hand ins Zimmer.
«Ich dachte, ich bring dir was, wenn du schon nicht mit uns zusammen essen willst. Kalte Lasagne schmeckt nicht.»
Martha will sagen, dass sie keinen Hunger hat. Aber ihr Magen verrät sie durch lautes Knurren. Schließlich hat sie nichts zu Mittag gegessen.
«Danke, stell’s mir ans Bett. Ich will nicht, dass mein Buch fettig wird.»
Ihre Mutter beugt sich über ihre Schulter. «Was liest du denn da?»
«A Streetcar named Desire»,
sagt Martha etwas von oben herab.
«Gelesen hab ich’s nie, aber ich kenne den Film mit Marlon Brando. Wenn du magst, leih ich den mal aus, und wir schauen ihn uns zusammen an.»
«Ich glaube, wir sehen den in der Schule», sagt Martha. «Und jetzt lass mich weiterlesen.»
Constanze stellt den Teller auf Marthas Nachttisch und geht zur Tür. «Ich wollte mich bei dir entschuldigen. Ich hätte dich nicht so anbrüllen sollen.»
«Schon gut, Mama.» Martha blickt nicht hoch, weil sie spürt, wie ihr die Tränen kommen.
«Ich weiß ja, dass du Poppy niemals absichtlich weh tun würdest.»
Das hätte sie nicht sagen dürfen, denn nun weint Martha wirklich. Nicht wegen Poppy, sondern weil sie sich selbst leidtut.
Poppy hat einen Vater
und
eine neue Mutter, und was hat sie? Martha hat keinen Vater mehr und eine Mutter, die sich nicht um sie kümmert. Ihr allenfalls was zu essen hinstellt wie einem Hund. Einem kleinen, traurigen Hund.
3.
M artha steht vor dem Spiegel im Bad und malt mit schwarzem Kajal einen Strich auf ihr linkes Augenlid.
Es klopft an die Tür. «Beeil dich, Martha, ich muss zum Dienst.»
Die Glatze.
«Geh doch aufs
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