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Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Vaillant
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dreißig Meter hoch und hundert Jahre alt, entspricht sie, wie man sagen könnte, eher dem, was man unter diesen Umständen von einer Mutation erwarten würde. Außer dieser sollen angeblich noch weitere »goldene« Fichten auf den Inseln leben, aber wie diejenige, die Grant Scott entdeckte, sind sie samt und sonders nicht so groß, nicht so gelb und auch nicht so einzigartig gewachsen wie der legen däre Baum, der am Nordende des Yakoun stand.
    Als er wieder in Vancouver war und sich für das endgültige Thema seiner Arbeit entscheiden musste, wurde Scott klar, dass er eigentlich nur diesen außergewöhnlichen Baum untersuchen wollte. Aber ein solches Projekt würde kaum von seinen Professoren abgesegnet werden, die fast alle ihr Augenmerk auf die Holzindustrie gerichtet hatten. Oscar Sziklai hätte möglicherweise als Ratgeber dienen können, wäre er nicht zu sehr damit beschäftigt gewesen, sich mit Studenten abzuquälen. In dieser Situation erschien John Worrall, ein junger Professor aus Yale, auf der Bildfläche. Worrall war ebenfalls Engländer und Altersgenosse von Bruce Macdonald. Die UBC hatte ihn eingestellt, Pflanzenphysiologie zu lehren. Er spornte Scott an, sich mit dem Rätsel der goldenen Fichte zu beschäftigen, und erklärte sich bereit, ihn zu unterstützen. Zielsetzung von Scotts Abschlussarbeit war es, (a) festzustellen, wieso die goldene Fichte golden war, und (b) wieso der Baum überleben konnte, obwohl er doch eine so schwere Schädigung auf wies. Laut Scotts Forschungsarbeit läuft alles auf die Chloro plasten hinaus, die winzigen subzellulären Organellen, die für Pflanzen das tun, was fotovoltaische Zellen für Maschinen tun, die mit Solarenergie betrieben werden. Es sind die scheibenförmigen Chloroplasten, die Chlorophyll erzeugen und dadurch die Fotosynthese ermöglichen. Die Nadeln eines Baumes sind im Wesentlichen Träger für die Chloroplasten und funktionieren ähnlich wie Solarmodule. Sie sind so klug konzipiert, dass Chloroplasten sich innerhalb der Nadeln während des Tages ständig neu ausrichten, um das Sonnenlicht voll auszunutzen. Der Fehler lag nach Scotts Ansicht in den Proteinen, aus denen die Chloro plasten bestanden. Sie funktionierten normal, bis sie dem Sonnenlicht ausgesetzt wurden und mutierten, wodurch die Chloroplasten auf gefährliche Weise in ihrer Wirkung einschränkt wurden. Für die goldene Fichte war es ein Glück, dass die Nadeln, die dem Sonnenlicht nicht direkt ausgesetzt waren, unversehrt blieben und in der Lage waren, vom reflektierten Licht zu leben – und sogar zu gedeihen.
    Grant Scotts Erfahrungen mit den Haida und den Naturkräften der Inseln beeindruckten ihn so, dass er keine Laufbahn in der Holzindustrie einschlug, sondern Vermittler und Forstberater wurde und ausschließlich mit den Küstenstämmen des Nordens arbeitete. »Jedesmal, wenn ich wieder dorthin komme, habe ich dasselbe Gefühl wie beim ersten Mal«, erklärte er von seinem Wohnsitz auf einer kleinen Insel in der Georgia Strait aus. »Man möchte sofort losziehen und nachschauen, was sich hinter der nächsten Bergkuppe tut. Natürlich«, fügte er hinzu, »weiß man, wie es inzwischen dort aussieht.« Er meinte die Kahlschläge.
    Wie die Menschen mutieren auch Bäume allzeit, aber bei jedem neuen Fall der Chromosomenwürfel kommt es zu schweren Kollateralschäden. Die Mutation, die für die goldene Fichte verantwortlich war, ist so ungewöhnlich nicht, und die meisten Baumzüchter haben das eine oder andere Mal mit goldenen Setzlingen zu tun gehabt. Wahrhaft erstaunlich ist aber das von unbändiger Energie getragene Überleben des Exemplars am Yakoun. Das deutet auf eine Mutation hin, die sich auf einzigartige Weise der dichten Wolkendecke von Haida Gwaii angepasst hat. Und der Standort des Baumes dicht am Fluss dürfte ebenfalls gute Vorbedingungen fürs Überleben geboten haben: Außer der äußerst fruchtbaren Erde des Landstreifens am Fluss könnte sich ein Effekt namens Albedo von Vorteil erwiesen haben.
    Wenn Sonnenstrahlen auf ein Objekt treffen, werden sie entweder absorbiert oder reflektiert, gewöhnlich etwas von beidem. Der Prozentsatz, der reflektiert wird, ist die Albedo, die entsprechend dem Reflektionsvermögen der jeweiligen Substanz schwanken kann. Neuschnee zum Beispiel besitzt eine Albedo von fünfundsiebzig bis fünfundneunzig Prozent, was erklären dürfte, dass manche Alpinisten an den Innenseiten ihrer Nasenlöcher einen Sonnenbrand bekommen. Ein Highway

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