Am Ende der Wildnis
der erste Baum eine Frau und der zweite Baum – derjenige, den Hadwin fällte – ein Mann: der Neffe der Frau. Sie waren die einzigen Überlebenden einer Pockenepidemie und sich bewusst, dass ihr Clan dem Untergang geweiht und der Zauber, wie Simeon es ausdrückt, vorüber war. Deswegen erbaten sie sich von den Geistern ein Zeichen, dass dieser Zauber einmal lebendig gewesen war, damit zukünftige Generationen, wer auch immer sie sein mochten, verstehen würden, welche Menschen dort gelebt und welche Macht sie ausgeübt hatten. Die Tante starb zuerst und der Neffe begrub sie am Ufer des Yakoun. Eine goldene Fichte wuchs über ihrem Grab, und sie war »weiblich«. Sie wuchs »ungefähr dreihundert Jahre lang«, bevor sie von einem Blitz getroffen wurde. Der Neffe war inzwischen auch schon sehr alt und fühlte sich nicht wohl. Daher ging er zum Grab seiner Tante, um auf den Tod zu warten. Als er starb, wuchs die zweite goldene Fichte. Das war die sterile männliche – die letzte goldene Fichte.
Zeit und Ereignisse sind in dieser Version der Geschichte recht dehnbar, aber es reizt doch die Frage, ob sich derartige Wunder ereignen können. In der Bibel geschehen sie zweifellos, und mit deren Text sind die meisten Haida-Geschichtenerzähler des letzten Jahrhunderts vertraut. Der gesunde Menschenverstand würde die Möglichkeit verneinen, und doch haben Wissenschaftler gezeigt, dass ein Edelreis der Fichte Wurzel schlagen kann, wenn man es ganz einfach nur in fruchtbaren Boden steckt. Und es dürfte schwierig sein, fruchtbareren Boden zu finden als den des Yakoun Valley. Adler und Raben sind hier verbreitet und hocken oft in den Wipfeln der Bäume. Mit ihren kräftigen Schnäbeln brechen sie immer wieder kleine Zweige ab. Es ist daher durchaus denkbar, dass ein abgehackter oder abgebrochener Zweig seinen Weg von der Spitze der »ersten« goldenen Fichte mit dem Stiel voraus in den fruchtbaren Humus eines verrottenden Ammenstammes gefunden hat. Die Chancen sind natürlich minimal, aber auch nicht geringer als die, dass die goldene Fichte überhaupt hatte wachsen können. Ebendiese Bereitwilligkeit, dem kaum Glaublichen eine Heimstatt zu bieten, macht die Inseln und ihre Umgebung so außergewöhnlich.
Bis vor hundert Jahren koexistierte die goldene Fichte mit der einzigen Karibu-Art, von der man weiß, dass sie in einer Regenwald-Umwelt gelebt hat. Vor 1908, als die letzten Exemplare von Jägern erlegt wurden, war Graham Island die Heimat des Dawson’s Caribou, einer Karibu-Unterart, die wahrscheinlich nach der letzten Eiszeit auf den Inseln gestrandet war. Auf der anderen Seite der Hecate Strait lebt in einem begrenzten Gebiet um Princess Royal Island und dem benachbarten Festland eine einzigartige Population weißer Schwarzbären. Nach Aussagen von Wissenschaftlern verdanken diese Bären die weiße Färbung ihres Fells einem rezessiven Gen – und sie sind keine Albinos. Sie machen bis zu zehn Prozent der lokalen Bärenpopulation aus und paaren sich ganz normal mit ihren schwarzen Artgenossen.
Ganz in der Nähe, in denselben Gewässern, die auch dem weltgrößten Oktopus (dem Pazifischen Riesenkraken) Lebensraum bieten, finden sich die letzten bekannten Rudimente des voluminösesten Lebewesens, das je existiert hat. Die ersten Anzeichen dafür, dass etwas Riesenhaftes und Bemerkenswertes in der Hecate Strait leben könnte, wurden 1984 wahrgenommen, als Wissenschaftler des Projekts Geological Survey of Canada sich an einer Kartierung des Meeresbodens versuchten. Mit dem Sonarverfahren beobachteten sie gewisse akustische Anomalien, die etwas erzeugten, das als »eine amorphe unregelmäßige seismische Signatur, die keine kohärenten Innenreflektoren hat«, beschrieben wurde. Quelle dieser kryptischen Botschaft war, wie sich herausstellte, ein gigantischer prähistorischer Schwamm, der südlich in Richtung Queen Charlotte Sound Hunderte Quadratkilometer Meeresboden in der Hecate Strait bedeckt. Bevor dieses Reststück entdeckt wurde, hatte man angenommen, dass Kieselschwammriffe dieser Art schon vor fünfundsechzig Millionen Jahren ausgestorben seien. Während ihrer Blütezeit in der Oberjura vor hundertvierzig Millionen Jahren bedeckten derartige Riffe Hunderttausende von Quadratkilometern dessen, was damals der Grund der Ozeane war, und ihre versteinerten Überreste wurden von Rumänien bis Oklahoma gefunden. Zweihundertfünfzig Kilometer südwestlich dieser Schwamm riffe und mehr als zwei Kilometer unter der
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