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Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Vaillant
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des ungeschützten Chlorophylls geht das Grün in den Nadeln verloren, und es bleiben nur die schadhaften gelben Carotinoide zurück, die nicht in der Lage sind, zu fotosynthetisieren. Unter normalen Licht bedingungen werden diese gelben Nadeln (die noch leben) gewöhnlich ihre Kraft verlieren und abfallen. Eine Chlorose der Art, wie sie die goldene Fichte zeigte, hat gewisse Ähnlichkeiten mit Albinismus, aber besser noch lassen sich Parallelen zur Xeroderma pigmentosum ziehen, der äußerst seltenen Hautkrankheit, die UV-Strahlen zur tödlichen Bedrohung für den Menschen werden lässt. Auch wenn dadurch jeder normale Lebensablauf empfindlichst gestört wird, kann sich die erkrankte Person schützen, indem sie das Sonnenlicht meidet. Ein Baum in dieser Verfassung findet sich in einer tödlichen Zwickmühle wieder: In seinem instinktiven Drang zum Licht wächst er sich zu Tode.
    Auf ihre Weise trotzte die goldene Fichte aller Logik, indem sie so sehr in die Höhe wuchs, dass sie der vollen Kraft der Sonne ausgesetzt war und dennoch darin nicht umkam. Auch wurde sie ganz und gar nicht in ihrer Entwicklung blockiert oder gehemmt; sie war genauso groß, wie jeder normale Baum ihres Alters unter diesen Wachstumsbedingungen geworden wäre. Aber die Farbe war nicht die einzige Eigenschaft, die den Baum so unverwechselbar machte. Als die goldene Fichte herangereift war, wartete sie mit einer weiteren Besonderheit auf. Normale Sitka-Fichten sind nicht nur promisk – sie kreuzen sich mit jeder anderen Fichte, der sie genehm sind –, sondern auch hermaphroditisch, und das bedeutet: Jedes Individuum produziert seine eigenen Ovula ebenso wie die Pollen, um sie zu befruchten. Aber die goldene Fichte produzierte keins von beidem, was sie praktisch zu einer asexuellen und unfruchtbaren Einzel erscheinung machte. Die Chance, dass sich ein solcher Zufall – erfolgreich – wiederholt, ist unermesslich gering.
    Nicht nur war die goldene Fichte steril und unterschied sich durch ihre Farbe radikal von den normalen Exemplaren ihrer Art, sie nahm auch eine auffallend andere Form an. Wie bereits bemerkt, sind Sitka-Fichten keine sonderlich akkuraten Bäume; anders als viele Koniferen haben sie die natürliche Neigung, willkürlich und asymmetrisch zu wachsen. Die goldene Fichte hingegen besaß eine beinahe heckenähnliche Dichte und eine uncharakteristisch konische Form. »Sie war perfekt«, erinnerte sich Tom Greene, ein Holzfäller und Silberschmied der Haida. »Sie sah aus wie ein manikürter Baum.« Der amerikanische Förster und Bodenkundler Edmond Packee, der mehrere Jahre auf Haida Gwaii verbrachte und mit dem Baum vertraut war, vermutete, dass es sich bei der kompakten und spitz zulaufenden Form des Baumes um eine spontane Anpassung handelte, die dem Zweck diente, die Belastung durch UV-Strahlen, wie sie eher ungezügelt wachsende Zweige ertragen müssen, auf ein Minimum zu reduzieren. Diese Theorie untermauern Fotos der goldenen Fichte, die jene toten und ausgeblichenen Überreste von Ästen zeigen, die versucht haben, sich aus der goldenen Sicherheitszone herauszuwagen.
    Pflanzenphysiologen haben wie Ärzte ihre Schwierigkeiten, eigentümliches Verhalten trotz des Fehlens eines Krankheitsbildes zu deuten. Wie soll man sich erklären, dass ein Exemplar »krank« aussieht, aber nicht krank ist? Botaniker haben zur Erklärung solcher Eigentümlichkeiten nur den Begriff »Mutation« parat. Aber ohne die DNS einer Pflanze analysiert zu haben, wäre das bestenfalls eine vage Vermutung. Ein Baum kann genau wie ein Mensch theoretisch von Mutationen durchsetzt sein, die unsichtbar sind, und solange sie keinen Einfluss auf die Erscheinung oder Gesundheit des Individuums haben, können sie unentdeckt bleiben. Um dem Rätsel auf den Grund zu gehen, wollte ein junger Förster namens Grant Scott seine erste Prüfungsarbeit über die goldene Fichte schreiben. Während er Mitte der 1960er-Jahre am Forstwissenschaftszweig der University of British Columbia studierte, verbrachte er zwei Sommer als Holzschätzer auf Haida Gwaii. Während der Zeit lernte er das Yakoun Valley sehr gut kennen, er machte sich mit der goldenen Fichte vertraut und entdeckte sogar deren größtes und inzwischen bekanntestes Gegenstück ungefähr fünfzehn Kilometer flussaufwärts an einem fast identischen Standort auf dem Ostufer. Diese Sitka-Fichte ist zwar im Prinzip golden, aber weniger gleichmäßig gefärbt und für eine Fichte typischer geformt. Ungefähr

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