Am Ende der Wildnis
darauf ließe sich behaupten, dass Bäume das Streben nach Höherem in seiner reinsten Form repräsentieren. Allein indem sie Wurzeln schlagen und wachsen, posaunen sie heraus: »Dergestalt trotzen wir ihnen, der Gravitation wie der Entropie!«
Viele Menschen lassen sich von Bäumen und Wäldern inspirieren, und oft sehen wir in ihnen Zufluchtsstätten des Friedens und der Seelenruhe. Aber das ist trügerisch. Wälder sind tatsächlich Orte des rücksichtslosen Wettstreits, wo Bäume – und sogar Äste am selben Stamm – in einen Kampf auf Leben und Tod verstrickt sind, bei dem es um die ideale Position geht. Der Sieger in diesem Zeitlupenwettlauf nach Raum und Licht wird von dem Baum oder dem Ast gestellt, der am schnellsten und besten zu fotosynthetisieren in der Lage ist. Die Fotosynthese, der Prozess, durch den nutzbare Energie (Kohlehydrate) aus Sonnenlicht und Kohlendioxid hergestellt wird, findet in den Blättern oder Nadeln eines Baumes statt und ist extrem komplex. Ein Teil des Prozesses schließt die Spaltung von Kohlendioxid-Molekülen ein. Unser aller Leben hängt buchstäblich davon ab, denn aus diesem Gas setzt der Baum den Sauerstoff frei, den wir atmen. Der übermächtige Bedarf an Sonnenlicht ist ein Grund, warum die Koniferen der West Coast so schnell so hoch werden. Wenn ein Baum im umgekehrten Fall isoliert von Nachbarn wächst, wird er sich eher auf Umfang als auf Höhe konzentrieren, und Ergebnis ist eine beleibtere, buschigere Version der hageren, sich in ständigem Wettstreit befindenden Gegenstücke im Wald.
Aber wie robust ein Baum auch von außen wirken mag – das ist größtenteils Illusion: Wie die Erdkruste ist der lebende Teil eines Baumes nur ein dünner Schleier, der eine ansonsten leblose Masse verhüllt. Wie abwegig es auch klingen mag, ein toter Baum, der durchsetzt ist mit Schimmel, Fungus, wirbellosen Tieren und Bakterien, enthält weitaus mehr Lebendiges. Der lebende Teil eines gesunden Baumes macht nur fünf Prozent von dessen Gesamtheit aus. Der Rest ist, ähnlich wie bei einem Korallenriff, nicht mehr als Gerüstmaterial. Unter seinem Grün ist ein Baum nichts als eine Reihe konzentrischer Röhren, von denen eine jede ihre spezifische Funktion erfüllt – defensiv, vaskulär oder baulich.
So ähnlich wie die Haut unseren Körper abschirmt, so erfüllt die äußerste »Röhre« – die Rinde – fast dieselbe Aufgabe für den Baum: Sie schützt ihn vor äußeren Angriffen durch Tiere, Insekten und Feuer und hilft obendrein, die Flüssigkeiten zu bewahren, die ihn am Leben erhalten. Ihre Dicke variiert entsprechend den Bedürfnissen des Bau mes. Während die Rinde einer Buche zum Bespiel weniger als zwei Zentimeter dick ist, kann es sein, dass die einer großen Douglas-Fichte zwanzig Zentimeter misst.
Die Douglasie gedeiht im trockeneren Boden des Nordwestens, wo eine dicke Rinde feuerhemmend wirkt. Sie ist zudem sehr schwer, und gelegentlich sind schon Holzfäller von herabfallenden »Wänden« aus dieser Baumrinde erschlagen worden. Direkt innerhalb der Rinde befindet sich das vaskuläre System des Baumes, das nicht viel dicker ist als ein Stück Pappe. Während Fotosynthat, das an den Blättern oder Nadeln entsteht, nach innen abgezogen wird, um den Rest des Baumes zu versorgen, werden mit dem Wasser zusätzlich Nährstoffe aus der Erde gesogen. Hierbei funktioniert ein Baum wie ein riesiger Strohhalm, der in viele Einzelleitungen unterteilt ist. Im Fall eines großen Baumes an der West Coast kann es eine Woche oder länger dauern, bis ein individuelles Wassermolekül durch den sogenannten Transpirationsstrom von der Wurzel zu einem Ast gelangt, und doch vermag so ein Baum tagtäglich Tausende Liter Wasser über seine Blätter freizusetzen. Unter passenden Bedingungen kann ein Wald seinen eigenen Nebel und Regen erzeugen.
Eingeschoben ins Vaskularsystem ist die Wachstums schicht Kambium; nur eine Zelle dick, erzeugt dieser ge spinstähnliche »Hohlzylinder« aus Bildungsgewebe das Holz eines Baumes in Form von Jahresringen. Innerhalb des Kambiums und der Gefäßschichten befindet sich das »tote« Kernholz, dessen Zellen zwar Wasser speichern und auch transportieren können, aber nicht in dem Sinne lebendig sind, dass sie sich aktiv an Aufbau oder Erhaltung des Baumes beteiligen. Im Laufe der Zeit wird das Wasser in diesen Zellen durch eine feste epoxidähnliche Substanz namens Lignin ersetzt, die dem Baum seine Kraft verleiht. Und hier – in der Zellulose des
Weitere Kostenlose Bücher