Am Ende der Wildnis
hingegen hat eine Albedo von zehn bis fünfzehn Prozent: Er reflektiert nicht viel, wird aber höllisch heiß – genau wie Strandsand. Vom Wasser reflektiertes Sonnenlicht enthält immer noch alles, was benötigt wird, um die Fotosynthese zu erleichtern (der sichtbare Teil des Lichtspektrums heißt fotosynthetisch aktive Strahlung oder PAR), aber deren Albedo schwankt abhängig vom Einfallswinkel des Sonnenlichts: Das Morgen- und das Winter licht mit ihrem kleineren Winkel sorgen für eine viel höhere Albedo – an die hundert Prozent –, während es sein kann, dass die Mittagssonne im Hochsommer eine Albedo von we niger als zehn Prozent produziert. Der Zustand der Wasseroberfläche ist ebenfalls ein Faktor, aber der Yakoun ist dort, wo er am Baum vorüberfließt, spiegelglatt, und wird daher die potenzielle Albedo nicht nennenswert reduziert haben. Da in unmittelbarer Nachbarschaft sehr viele hohe Bäume stehen, stammt das einzige Licht, das die Oberfläche des Yakoun erreicht, von der höher stehenden Mittags- und Sommersonne, was eine entsprechend niedrige Albedo bedeutet – genau die richtige Medizin, die der Doktor einem UV-intoleranten Baum wie der goldenen Fichte verschrieben hätte. Selbst wenn die goldenen, gen Himmel gerichteten Nadeln ihre Aufgabe nicht erfüllten, ist es denkbar, dass die grünen Nadeln darunter durch die Albedo genährt wurden, die von unten zurückstrahlte. Und obwohl sie dysfunktional waren, vermochten die goldenen Nadeln vielleicht doch etwas beizutragen: Beträgt die Albedo eines typischen Nadelwaldes nur rund zehn Prozent, war die der goldenen Fichte beträchtlich höher. Deren Nadeln reflektierten so stark, dass sie in Videoaufnahmen des gefallenen Baumes, die mit Kameralicht gemacht wurden, den Betrachter blenden. Vielleicht hatte also der Defekt der goldenen Fichte seinen Anteil daran, sie am Leben zu erhalten, indem er einen höheren – aber nicht tödlichen – Prozentsatz der Albedo auf die nicht betroffenen Nadeln reflektierte.
Aber selbst wenn es sich so verhalten hätte – na und? Aus der Perspektive der mündlichen Überlieferung der Haida, einer Melange aus Geschichte, Mythen und Parabeln, sind solche Mutmaßungen nichts als Gesellschaftsspiele für Botaniker. Müsste man die Überlebenschancen eines einzelnen Baumes berechnen, der nicht nur einen, sondern drei höchst augenfällige Defekte besitzt, die allesamt Auswirkungen auf seinen physischen Aufbau, seine Fähigkeit zur Fotosynthese und obendrein noch auf seine Fortpflanzungsfähigkeit haben – und dann die Wahrscheinlichkeit einbeziehen, dass er dazu in einer natürlichen Umgebung wächst, die es ihm ermöglicht, trotz seiner Defekte zu überleben und zu gedeihen –, käme man zu dem Ergebnis, dass die Chance wohl unendlich klein wäre. Zu Recht ginge einem das Wort »wundersam« durch den Kopf, und in einer Version der Geschichte von der goldenen Fichte, die wahrscheinlich älter ist als diejenige mit dem ungehorsamen Enkel, wird tatsächlich auch um ein Wunder gebeten.
Hazel Simeon ist eine Haida-Künstlerin, die Knopfdecken – Umhänge für festliche Anlässe – herstellt und sie sowohl an Haida als auch Sammler von Haida-Kunst ver kauft. Ihre Spezialität sind Decken, auf denen die Geschichte der goldenen Fichte dargestellt ist. Sie spricht fließend Haida und ist eine der letzten Inselbewohner, die noch auf eine Weise aufgezogen wurden, die man hätte traditionell nennen können. Als Kind wurde ihr in den 1950ern von den Ältesten in ihrer Familie gesagt, dass sie später Deckenmacherin sein werde. »Sie haben mich nicht einmal kochen lassen oder angeln«, sagte sie. »Sie wollten nicht, dass ich aus der Bahn geriet.«
Traditionsgemäß werden Knopfdecken von Frauen hergestellt, aber die strengen formelhaften Muster, die sie be nutzen, sind fast immer von Männern gezeichnet. Appliziert werden sie dann typischerweise mit schwarzem oder rotem Filz, der mit Plastik- oder Abaloneknöpfen konturiert wird. Simeons Decken sind jedoch ganz anders. Hergestellt aus Wolle, Baumwolle, Buckskin und Wildleder, werden sie mit Goldperlen verziert, mit Scheiben aus Kupfer und Messing, Knöpfen aus Abalone, Steinen, Knochen sowie allem erdenklich anderen, das sie geschenkt bekommen oder gefunden hat. Wenn sie eine Decke mit der goldenen Fichte gestaltet, ist deren Stamm darauf auch der Torso eines Mannes oder einer Frau, je nachdem von welchem Teil der Geschichte der goldenen Fichte sie erzählt. Laut Simeon war
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