Am Ende der Wildnis
oder eines verrottenden Apfels im Zeitraffer, nur dass sich hier gleich ganze Landschaften verändern.
Während die Abholzung des Urwalds in Alberta, Idaho, Montana und im Hinterland von British Columbia mit hohem Tempo fortgesetzt wird, ist bei den gemäßigten Regenwäldern des pazifischen Nordwestens das Ende erreicht. Mit Ausnahme der kümmerlichen Waldlandschaften im äußersten Norden – die borealen Wälder Alaskas, des nörd lichen Kanadas und Skandinaviens und der sibirischen Taiga – gibt es auf dieser Hemisphäre keinen Ort mehr für neue Abholzungen. Auch wer sich in der Hoffnung auf unberührtes Territorium nach China wendet, wird bitter enttäuscht: »Mögen Erde und Wasser an ihren rechtmäßigen Ort zurückkehren«, fleht ein chinesisches Gebet, das dem zweiten Jahrtausend vor Christus zugeordnet wird, »grüne Farben zu Gras und Bäumen.« Die meisten heute lebenden Menschen werden das Ende der Abholzung von Urwald – von großen Bäumen – erleben, den Niedergang einer Industrie, die in der nördlichen Hemisphäre seit mindestens fünftausend Jahren mit unvermindertem Eifer betrieben wird. Durch eine Laune des Schicksals wurden die größten Bäume, die es auf dieser Welt je gegeben hat, bis zum Schluss aufgespart – für uns.
So paradox es auch erscheinen mag, die Tatsache, dass man außerhalb von Parks an der West Coast für mehrere Jahrhunderte, wenn überhaupt, keinen Urwald sehen wird, finden viele professionelle Holzfäller in Ordnung. Für sie sind diese Bäume tot wertvoller als lebendig. Hier draußen ist das Pionierzeitalter noch nicht vorbei. Und ein Unternehmen wie Weyerhaeuser ist nicht nur im Handel mit Holzprodukten aktiv, es verkauft auch Immobilien in Form von Rohflächen – frisch abgeholzt und bereit zur Besiedelung. In der Branche bezeichnet man diese Praktik als »Log it and flog it« (abholzen und verscheuern), der Traum eines jeden kurzfristigen Investors: Der Landeigentümer kann seinen Grundbesitz nicht ein-, sondern gleich zweimal zu Geld machen – indem er zunächst das Holz verkauft und dann das Land selbst – und das ohne jede kosten- und zeitintensive Wiederbepflanzung und ohne ökologische Verantwortung tragen zu müssen.
Gordon Eason ist Senior Manager und Head Engineer bei Weyerhaeusers (ehemals MacMillan Bloedels) North Island Division auf Vancouver Island. Er ist nicht nur ein hoch angesehener Forstwirt, sondern in der Gegend auch so etwas wie eine Berühmtheit, weil er den »Carmanah Giant« aufgespürt hat. Nachdem er die Geschichte eines alten Waldvermessers gehört hatte, der zufolge irgendwo im Forst Carmanah Walbran am südlichen Ende Vancouver Islands eine riesige Sitka-Fichte wachsen sollte, machte sich Eason auf die Suche. Da die Angaben des alten Holzfällers ungenau waren, das Carmanah Valley aber sehr ausgedehnt ist, flog Eason im Hubschrauber über das Gebiet. Wann immer er dabei einen Baum entdeckte, dessen Spitze den Rest überragte, bat er den Piloten, auf der Stelle zu bleiben, während er sich aus der Tür hängte, um mithilfe eines Holzfällermaßbands, das er mit einem Bolzen beschwert hatte, eine Messung vorzunehmen. Die meisten größeren Bäume, die er maß, hatten eine Höhe von rund fünfundsiebzig Metern erreicht, was für jede Spezies der West Coast beeindruckend ist. Wie sich jedoch herausstellte, waren sie weit übertroffen worden. Als Eason das Maßband am Carmanah Giant herun terließ, setzte der Bolzen erst dann auf dem Waldboden auf, als mehr als neunzig Meter abzulesen waren – damit war der Baum mehr als doppelt so hoch wie das Dominion Building in Vancouver, das zur Zeit seiner Fertigstellung als das höchste Gebäude des britischen Königreichs galt.
Gordon Eason hat sein gesamtes Arbeitsleben in der Holzindustrie verbracht. »Ich bin gerne im Wald«, erklärte er, »deshalb habe ich mich ja für diesen Beruf entschieden.« An seinem gegenwärtigen Job stört ihn nur, dass er ihm nicht genügend Zeit lässt, im Wald zu sein. Sein Gebiet hat nicht nur die höchste Dichte an Berglöwen in Nordamerika, es verfügt auch über eine der größten verbleibenden Urwaldreserven. Easons grober Schätzung zufolge, die auf einem durchschnittlichen jährlichen Holzeinschlag von einer Million Kubikmetern basiert, wird der in dieser Region verbliebene Urwald in fünfunddreißig Jahren weg sein. Dabei ist unbedingt zu beachten, dass nicht jeder Küstenurwald der stereotypen Vorstellung di cker Stämme und an den Wolken kratzender
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