Am Ende der Wildnis
Baumspitzen entspricht. Besonders an Berghängen sind alte Bäume aufgrund kürzerer Wachstumsphasen und schlechteren Bodens eher kleiner. Die beeindruckendsten Bäume stehen in der Regel an niedriger gelegenen Orten und im besten Boden, etwa in Talsohlen. In diesen Bereichen ist aber auch das Fällen am leichtesten, und deswegen sind die meisten Bäume ihm bereits zum Opfer gefallen. So wird es sich bei den fünfundzwanzig Millionen Kubik metern, von denen Eason glaubt, dass sie aufgrund mangelnder Zugänglichkeit und umweltschutzbedingter Beschränkungen stehen bleiben werden, vermutlich um die schlechteste Qualität handeln – aus ästhetischer wie aus wirtschaftlicher Sicht. Des Weiteren gibt es keinen Grund anzunehmen, dass die von Eason geschätzte Einschlagrate nicht im Laufe der Zeit je nach Holzmarktbedingungen und Veränderungen hinsichtlich der Erntebestimmungen und -praktiken schwanken wird. In jedem Fall ist so gut wie sicher, dass der technische Fortschritt einen immer schnelleren und effizienteren Einschlag als bisher ermöglichen wird.
Doch es gibt auch Dinge, die sich nie ändern: Obwohl Macht und Einfluss großer Unternehmen wie Weyerhaeuser und Canadian Forest Products (Canfor) enorm sind, sieht sich die Holzindustrie nach wie vor den Berg- und Talfahrten von Boom und Baisse ausgesetzt. Während Kriege, Wohlstand und urbane Katastrophen wie Erdbeben und Brände die Branche florieren lassen, führen Rezessionen, Depressionen, Marktschwemmen und internationale Handelsstreitigkeiten zu Massenentlassungen und Sägewerkschließungen. Indes wird Urwald immer noch mit derselben Mischung aus Ehrfurcht, Wertschätzung, Raffgier und Verachtung betrachtet wie in den Tagen William Bradfords oder sogar Platons. In der Holzindustrie werden diese uralten Wälder als »verfallende Wälder« bezeichnet, weil ihre Tage schnellen Wachstums längst vorbei sind und häufig Verrottung am Werk ist – zwei Gründe, aus denen die Industrie sie so schnell loswerden möchte. Gordon Eason fasste die vorherrschende Einstellung mit demselben Schlachtruf zusammen, den Holzfäller – und Holzbonzen – schon seit fünftausend Jahren benutzen: »Weg mit dem Scheiß aus der Landschaft, damit ich da endlich was Vernünftiges anbauen kann!«
Diese Äußerung ist komplexer, als es scheint. Im Zusammenhang gesehen, steckt dahinter keine besondere Bösartigkeit. Vielmehr ist sie auf unsentimentalen Pragmatismus zurückzuführen: wie wenn wir an unserem örtlichen Eisenwarenladen vorbeifahren – so altertümlich er auch riechen und so sachkundig sein silberhaariger Eigentümer auch sein mag –, um einen Baumarkt aufzusuchen. Den meisten von uns wird vorgegaukelt, wir hätten mehr Freiheit und Wahlmöglichkeiten denn je, doch in Wahrheit werden wir gegängelt von den realen, wenn auch kurzsichtig orientierten Interessen unserer Geldbörsen, raffinierter Werbefachleute, Konzernen von zunehmender Größe und Macht sowie Termindruck. So gesehen haben Baumplantagen und Baumärkte viel gemeinsam: Was ihnen an nachhaltigem Charakter, Schönheit oder auch an »Seele« fehlt, wiegen sie mit vermeintlicher Effizienz und Kosteneffektivität auf. Dies ist ein Nebeneffekt des Kapitalismus, dessen Wurzeln tief in unsere kollektive Einstellung gegenüber der Natur und gegenüber dem Kreislauf des Lebens reichen.
Im modernen Wald liegt genau wie im modernen Einzelhandel der Schwerpunkt mehr denn je auf Masse und Schnelligkeit. Mit »Ernte« meint Eason kein Heu oder Getreide wie noch vor einem Jahrhundert, sondern Bäume – gepflanzt in ordentlichen Reihen und häufig in Beständen mit nur einer Spezies, anders als bei Mischwäldern, wie sie die Natur bevorzugt. Es sind dies die wahren biologischen Wüsten. Heutzutage werden Bäume auf schnelles Wachsen gezüchtet und in kurzen Zyklen von zwölf bis achtzig Jahren geerntet, weil dies der Zeitraum des schnellsten – sprich: für kurzfristige Investitionen geeigneten – Wachstums ist. Diese kleinen, pflegeleichten Nutzbäume sind meist von minderer Qualität, (jeder Holzarbeiter kann das bestätigen). Sie sind oft weich und grobfaserig und viele werden gar nicht erst zu Brettern verarbeitet.
Die »arbeitenden« Wälder unserer Welt werden in Zukunft nichts anderes sein als berechenbare Lieferanten genetisch modifizierter Fasern. Häuser, Möbel – Dinge, die unsere persönliche Umgebung ausmachen – werden zuneh mend nicht wirklich aus Holz, sondern aus »Holzproduk ten« gefertigt: zu
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