Am Ende der Wildnis
geworden, das die Haida als gagiid bezeichnen. Das Wort gagiid bedeutet wörtlich »ein Davongetragener« und bezeichnet einen Menschen, der im Winter gekentert und fast ertrunken und durch diese Erfahrung verrückt geworden ist. Tanzmasken zur Darstellung dieser Kreatur fallen durch den wilden und stechenden Blick auf sowie durch blaue oder grüne Haut zum Zeichen des zu langen Aufenthalts im kalten Wasser. Die Wangen sind manchmal mit Seeigelstacheln gespickt, um zu demonstrieren, was der gagiid alles auf sich nimmt, um dem Hungertod zu entgehen, während er so aggressiv wie einsam als Gefangener durch eine Zwischenwelt torkelt. Mit der richtigen Ausrüstung und bei korrekter Ausführung des Rituals kann der gagiid jedoch gefangen und in seinen menschlichen Zustand zurückversetzt werden, ähnlich wie Europäer einer traumatisierten oder geisteskranken Person mit Liebe, Therapie oder Medikamenten zu helfen versuchen. ********
Der Journalist Ian Lordon, der für den Observer der Queen Charlotte Islands über die Geschichte der goldene Fichte berichtete und mit seiner Berichterstattung den größten Beitrag zur Aufdeckung der involvierten Zwischentöne und Komplexität geleistet hat, verstand, dass hier auf zwei Ebenen Geschichte geschrieben wurde. »Wir sind Zeu gen einer neuen Haida-Geschichte«, erklärte Lordon: »Der Tod der goldenen Fichte. In gewisser Hinsicht haben wir Glück, ein Ereignis mitzuerleben, das es wert war, diesen Prozess in Gang zu setzen.«
Nach dem Tod des Baums wurden diverse Ideen geboren, wie man sein Andenken in Ehren halten könnte. Darunter folgende Vorschläge: aus dem Baum ein Totem zu schnitzen, das über den Yakoun wacht; den Stamm in kleine Abschnitte zu zerteilen und diese zur individuellen Gestaltung an verschiedene berühmte Haida-Künstler zu verteilen und schließlich das Holz zu zersägen, um daraus Gitarren herzustellen. Das Holz der Sitka-Fichte zählt zu den weltweit besten Materialien, die es für die Decke von Akustikgitar ren gibt. Es wurden daher Pläne geschmiedet, einer Gruppe von Haida-Instrumentenbauern, die bereits hochwertige Akustikgitarren herstellten, Holz für eine spezielle »Golden Spruce Edition« zur Verfügung zu stellen. Dass keine dieser Ideen umgesetzt wurde, liegt zum einen an der logis tisch schwierigen Aufgabe, einen so großen Baum aus einem straßenlosen Stück Urwald zu schaffen, zum anderen daran, dass Fichtenholz viel schwieriger zu schnitzen ist als das Holz der Cedar. Letztlich aber auch an der menschlichen Natur in Form von Trägheit, internen Konflikten und Respekt vor den Toten.
In der Zwischenzeit hat die goldene Fichte ein Eigenleben begonnen, genauer gesagt, mehrere Leben, denn sie ist zum Nährboden für junge Bäume geworden. Heute ist der Stamm von einem dichten Pelz junger Sämlinge besetzt, von denen jeder einzelne es allen Widrigkeiten zum Trotz unbedingt nach oben schaffen will. Aber die regenerativen Kräfte des Baums manifestieren sich auch auf sehr viel überraschendere Art und Weise. In einem beeindruckenden adaptiven Kraftakt hat dieser Baum sich ausgerechnet die Spezies, die ihn umgebracht hat, vor seinen Karren auf dem Weg zum eigenen Erfolg gespannt. Ohne dass irgendjemand bei MacMillan Bloedel, an der UBC oder auf Haida Gwaii es bemerkte, ist die goldene Fichte zur am weitesten zerstreuten Sitka-Fichte der Welt geworden. Und alles nur wegen eines Mannes.
Eines Nachmittags im Frühling 1980 fuhr Bob Fincham, Highschool-Lehrer für Naturwissenschaften, in seine Auffahrt und fand vor seiner Garagentür eine große Kiste. Der kanadische Absender war ihm nicht bekannt, doch Fincham, ein eifriger Koniferensammler, ist Optimist und öffnete hoff nungsvoll das Paket. Darin befanden sich mehrere Pflanzen in Plastiktöpfen mit einer Gallone Fassungsvermögen, darunter eine Sitka-Fichte. Fincham weiß ein Menge über Koniferen und ist auf Kulturvarianten spezialisiert – ästhetisch ansprechende Mutationen, die zum Anpflanzen in Gärten gezüchtet werden –, aber eine solche hatte er noch nie gesehen. Völlig unbekannt war ihm auch die Person, die sie ihm zugeschickt hatte: Gordon Bentham, Supermarktschlachter aus Victoria und ebenfalls begeisterter Koniferenliebhaber. Bentham war, wie sich herausstellte, ebenfalls Optimist. Er hatte von Fincham und seiner beeindruckenden Koniferensammlung gehört und hoffte, wenn er ihm einen der von ihm kürzlich erworbenen Pfröpflinge der golden Fichte schicken würde, er seinerseits
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