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Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Vaillant
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Vögel sind, führe man sich Folgendes vor Augen: Alaska und Bri tish Columbia nehmen zusammen eine Fläche von fast zwei einhalb Millionen Quadratkilometern ein und beheimaten die größte Rabenpopulation des Kontinents. Dennoch ist in der gesamten Geschichte der Vogelbeobachtung und Vogelerfassung in Alaska noch kein einziger echter Albinorabe entdeckt worden. Das Exemplar von Port Clements ist das einzige, das in British Columbia jemals beobachtet wurde (mittlerweile wurde es ausgestopft und kann im Holzfällermuseum des Ortes bewundert werden). Der Rabe ist das mächtigste Wesen des Haida-Pantheons. Er war es, der die ersten Menschen in die Welt führte. Einer berühmten Haida-Geschichte zufolge war er ursprünglich weiß und wurde erst dann schwarz, als er durch den Rauchabzug eines Bighouse nach draußen flog und dadurch das Licht für eine Welt zurückstahl, die ein mächtiger Chief verdunkelt hatte. Und bei dem tragischen Unglücksfall, der den Raben das Leben kostete, wurde in Port Clemens ein Stromausfall verursacht – ein seltsames Beispiel für Über einstimmung von Mystik und Realität. Niemand weiß, warum zwei so einzigartige und leuchtende Geschöpfe allen Wahrscheinlichkeiten zum Trotz gleichzeitig auftreten, nur um dann auf skurrile Art und Weise zu sterben, und das auf ein und derselben Insel nur wenige Kilometer voneinander entfernt und in zeitlichem Abstand von nur wenigen Monaten. Da Wissenschaft und Wahrscheinlichkeitsrechnung hier passen müssen, kommen als Erklärung nur Mystik, Glaube oder ganz einfach ein Wunder infrage.
    Die meisten Leute auf den Inseln halten die goldene Fichte in liebevoller und trauriger Erinnerung. Wer einen nahestehenden Menschen verloren hat, sagt oft, ein Licht sei in seinem Leben erloschen – genauso war es mit der goldenen Fichte. Und weil sie an einem Ort stand, an dem Licht ein so kostbares Gut ist, erwies sich der Verlust als umso schmerzhafter. »Es regnet hier viel«, erklärte ein langjährig Ansässiger, »und es ist oft bewölkt, aber die goldene Fichte sah stets aus, als stände sie in der Sonne.«
    Verdeckt unter der vernarbten Haut aus Vergebung und philosophischer Resignation jedoch schwelt hartnäckige Bitterkeit in unverminderter Intensität. Bei einem Treffen mit einigen Ältesten der Tsiij git’anee, auf dem man über den gegenwärtigen Aufenthaltsort Hadwins mutmaßte, wurde deutlich, dass alle glaubten, er sei noch am Leben. Als einer von ihnen die Möglichkeit in den Raum stellte, er könnte auf die Inseln zurückkehren, schüttelte Dorothy Bell, die Älteste unter ihnen, eine liebenswerte, häkelnde Frau in ihren Achtzigern, die als »die Mutter aller« gilt, den Kopf. »Wenn er das tut«, brummte sie in unheilvollem Ton, »knüpfen sie ihn hoffentlich auf.« Das war fünf Jahre nachdem der Baum gefällt worden war.
    Bei einem ähnlichen Gespräch über Hadwin, das eine Gruppe von Schlepperkapitänen führte, sagte einer von ihnen, der in Prince Rupert Harbour unwissentlich Had wins Weg gekreuzt hatte, »ich hätte ihn mit meinem Schlepper plattgemacht, wenn ich gewusst hätte, dass er es war.« Niemand lachte. Dasselbe Gefühl brachte Dale Lore zum Ausdruck, als ein Schwermaschinentechniker mit Namen Don Bigg im Dezember 2000 eine junge Haida-Frau entführte. Nach seiner Verhaftung und dem Prozess im Masset Courthouse wurde Bigg in Handschellen gelegt und in einem Wasserflugzeug zusammen mit mehreren anderen Passagieren, unter ihnen auch der Richter, der den Fall soeben verhandelt hatte, nach Prince Rupert geflogen. Als die Hälfte der Hecate Strait überquert war, wollte er aus dem Flugzeug springen, wurde daran aber von einem Polizisten gehindert, der sein Bein umklammerte. Am Ende stieg Bigg alleine aus und fiel aus tausendfünfhundert Metern Höhe in die schwere See. Seine Leiche wurde nie gefunden, doch schon nach einer Woche kursierte ein übler Scherz: »Hoffentlich ist der Mistkerl auf Grant gelandet.«
    In gewisser Hinsicht denken die meisten Menschen hier über Hadwin genauso wie die Menschen in den Staaten über Timothy McVeigh: ein Außenseiter, der zu ihnen kam und etwas Kostbares getötet hat. Wenn sie ihn kriegen, wird er büßen müssen. In den Augen vieler Haida ist Hadwin noch so ein weißer Typ, der auf ihre Inseln kam, um ihnen etwas wegzunehmen und eine Krankheit zurückzulassen: dieses Mal eine neue Form von Terrorismus. Hadwin hat allerdings schon teuer bezahlt. Ob tot oder lebendig, er ist auf jeden Fall zu etwas

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