Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Vaillant
Vom Netzwerk:
vertraglich befugt, auf den steilen Hängen an der Fahrbahn Holz zu schlagen.
    In den 1950er-Jahren war Vancouver noch immer eine sehr britische Kolonialstadt, was sich in Verwaltung, gesellschaftlichem Umgang und Bildungswesen widerspiegelte. Durch Rocky Mountains und Coast Range vom restlichen Kanada und durch die Grenze von den Vereinigten Staaten abgeschnitten, lebte Vancouver ganz allein in seiner üppig grünen Welt. Bis zum heutigen Tag fühlt man sich auf der West Side wie in einer Vorstadt aus britischen Kolonialzeiten, Kapstadt zum Beispiel, Hongkong oder Penang – nur mit englischem Wetter. Wenn es nicht regnet, kreuzen Segelboote unter schneebedeckten Bergen auf der Bay, während in den Clubs an Land Kricket, Rasenbowling oder Tennis gespielt wird. Feigenbäume, Windmill Palms und japanische Bananen gedeihen neben chilenischen Araukarien und baumhohen Kamelien in einem Klima, das eher an Kalifornien gemahnt als an Kanada.
    Die East Side von Vancouver war eine völlig andere Welt als die ruhigen und respektablen Vororte der West Side. In den dicht besiedelten Schindelhausvierteln, die sich oberhalb der Docks und Sägewerke ausbreiteten, wetteiferten Immigranten aus Europa und Asien neben Einheimischen aus allen Teilen Kanadas um die besten Ausgangspositionen. Wie weit verstreut und isoliert die Holzarbeiter im Busch auch sein mochten, hier im Zentrum der East Side tummelten sich alle auf einem Haufen. Hier tranken durchreisende Holzfäller, Grubenarbeiter und Fischer in geschlechtergetrennten Bars an der Granville Street und hurten in Absteigen wie dem Blackstone und dem Austin bis zur Besinnungslosigkeit.
    Seit Generationen werden Holzfäller als eine menschliche Unterart angesehen, die einer besonderen Behandlung bedarf, so wie Boxer oder englische Fußballfans. Ein vielsagendes Beispiel ist die Ansage des Funkers der M.V. Princess Maquinna , eines Passagierdampfers, der die Küste von British Columbia befuhr. Er meldete der Hafenbehörde in Vancouver: »Wir haben fünfzig Passagiere an Bord und einhundertfünfzig Holzfäller.« In vielen Fällen waren abfällige Spottnamen wie bush ape und timber beast mehr als berechtigt, und ein Mann, der sich auskannte, formulierte einmal: »Da draußen in den Wäldern trieben sich damals einige verflucht blutrünstige Bestien herum.« Für einen gewissen Teil der Bevölkerung war die Holzfällerei British Columbias Antwort auf die französische Fremdenlegion: Junkies, Kleinkriminelle und Schläger suchten Zuflucht in den Camps, und die Gerichte unterstützten es. Und sogar da draußen war Heroin zu beschaffen.
    Die per Schiff oder Flugzeug aus dem Busch angereisten Holzfäller waren wandelndes Dynamit: Nicht nur befanden sich die Männer physisch in fabelhaftem Zustand, sie litten auch unter den übelsten Auswüchsen von Hüttenkoller und waren hoffnungslos sexbesessen. Viele hatten bereits die Schnapsflasche in der Hand, wenn sie sich auf den Weg in die Stadt machten, um so richtig Dampf abzulassen. Bill Weber, ein fünfundvierzigjähriger Fäller, hat diese Tage noch in guter Erinnerung. Er wurde in einer winzigen Holzfällergemeinde auf Vancouver Island geboren, und sein Vater ist ein Prediger, der seinen Lebensunterhalt nicht aus dem Klingelbeutel nahm, sondern zwischen den Predigten Holzfällerausrüstung transportierte. Seine Großmutter zählte zu den Letzten, die als Kinder im Planwagen nach Westen gezogen waren. Weber misst in seinen Holzfällerstiefeln gute zwei Meter und sieht mit seiner Gigantenstatur, den stechend blauen Augen und dem flachsblonden Haar aus wie ein teutonischer Ritter – oder das perfekte Aushängeschild der Holzindustrie. Er entsinnt sich an eine Reise mit dem Wasserflugzeug, bei der er, bereits schwer angetrunken, auf die Idee kam, er müsse sich auf der Stelle erleichtern. Zur großen Bestürzung des Piloten öffnete Weber die Tür und kletterte einfach hinaus auf den Schwimmer und in einen Gegenwind, der mit hundertfünfzig Stundenkilometern blies. Mit einer Hand an einer Flügelstrebe und der anderen an seinem Hosenschlitz waren es gerade mal fünf Finger, die ihn davor bewahrten, dreihundert Meter tief in die Georgia Strait zu stürzen. Nach mehreren Monaten im Busch hatte ein Mann eine Menge Geld verdient, und die Bündel waren fett und verführerisch. »Konnte passieren, dass ich drei- oder viertausend Dollar in meiner Hemdtasche hatte«, erinnert sich Weber, »und ich stolzierte durch die Gegend, als hätte ich die ganze Welt

Weitere Kostenlose Bücher