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Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Vaillant
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am Schlafittchen.«
    Die meisten jungen Holzfäller kannten sich im Stadtleben nicht aus und wurden leichte Beute, und so hatten sich zwei Seitenstraßen im Zentrum von Vancouver die Namen Trounce Alley und Blood Alley verdient. Eine dritte heißt Shanghai, und alle existieren noch heute. Zwar erzählt man sich, dass Einheimische betrunkene Weiße ausraubten und sie auf den Gleisen außerhalb des Güterbahnhofs ablegten, aber Vancouver besaß den Vorteil, die einzige Stadt auf dem kanadischen Festland zu sein, in der man in einer Winternacht in einem Park besinnungslos liegen kann, ohne zu erfrieren. »Ich ging nach Van, haute meinen Lohn auf den Kopf und flog mit nichts als meinen Klamotten am Leibe zurück«, erinnert sich Weber. »Es gab Alk in Massen, Dope und Schnupftabak, Irish Coffee in der Thermosflasche – das gehörte einfach zu meinem Leben. Wenn einer morgens noch halb betrunken war, hielt die Crew ihm den Rücken frei.«
    Das geschah nicht nur, weil man umgekehrt dasselbe erwartete, sondern weil das eigene Leben davon abhing. Noch heute ist es nicht ungewöhnlich, dass ein Holzfäller für einen kranken Partner einspringt oder dass ein Mann, der sich auf dem Weg der Besserung befindet, gleichzeitig Tabak kaut und eine Zigarette raucht, um flatternde Nerven zu beruhigen oder nervöse Magenschmerzen zu besänftigen. Es besteht kaum Zweifel, dass Drogen und Alkohol bei einer ganzen Reihe von Todesfällen eine Rolle gespielt haben; ein powder man kam mal so im Delirium in den Wald zurück, dass er eine Zwanzig-Kilogramm-Ladung unter einem großen Stumpf anlegte, sich dann auf ihn setzte und sich in die Luft sprengte. »Hol mich niemals an einem Sonntag von den Füßen«, pflegte Angus Monk zu sagen und sprach damit den unvermeidlichen Kater an, der am nächsten Tag auf ihn wartete. Angus unterschied sich nicht besonders von anderen Holzfällern seiner Generation, für die der Alkohol praktisch zu den Grundnahrungsmitteln zählte, aber er trieb es doch manchmal sehr extrem. Harry Purney, ein alter Freund aus der Ära der Dampfmaschine, erinnert sich daran, dass Angus sich eines Morgens das folgende Gericht bereitete und es Frühstück nannte:
    EIER À LA ANGUS
    Man koche und pelle siebzehn Eier, gebe sie in eine Schüssel und füge eine Tasse Cutty-Sark-Whisky hinzu.
    Reicht für eine Person.
    Angus, dessen Appetit zweifellos so fabelhaft war wie seine Konstitution, schaffte es nichtsdestoweniger, ein gewisses, wenngleich prekäres Gleichgewicht auszutarieren; nach Holzfällermaßstäben Mitte des Jahrhunderts genoss er das Beste beider Welten. Während die meisten Holzarbeiter jener Ära jeweils monatelang in abgelegene Täler verbannt waren, die nur per Schiff oder Wasserflugzeug zu erreichen waren, kommandierte Angus seine Crew den ganzen Tag über im Busch und konnte anschließend zu seiner Familie in den exklusiven Vorort West Vancouver heimfahren. Er war ein zäher Bursche, ein glücklicher und einflussreicher Mann, der bei allen Menschen außer seinen Rivalen in bester Erinnerung blieb. Einzig ein Sohn fehlte ihm, der an seiner Seite arbeitete. Für kurze Zeit sollte ein Neffe diese Lücke ausfüllen. Angus’ Schwester Lilian hatte zwei Söhne, aber nur einer von ihnen sollte älter werden als fünfunddreißig: Sein Name war Grant Hadwin, und in mancher Hinsicht hätte er der Sohn von Angus sein können. Sowohl Onkel wie Neffe besaßen das Rüstzeug für Exzess und Risiko, wie es nur die Männer von der Grenze besitzen. 1966 schmiss Grant die Schule und ging von zu Hause fort; er war sechzehn, und Uncle Angus wurde sein erster Boss.
    Das Holzfällen ist ein brutales Gewerbe, das einen Fünfzigjährigen schnell zum alten Mann machen kann, aber Grant, ein Athlet von Geburt, brachte die idealen Voraussetzungen für diese Aufgabe mit und wuchs angesichts physischer Herausforderung und myriadenfacher Gefahr über sich hinaus. Das unverfälschte, raue und isolierte Leben, ein letzter Anklang an die Zeiten im Grenzbereich der Zivilisation, fesselte seine Fantasie und sollte sein Leben formen, nicht zuletzt deswegen, weil es die bürgerlichen Ambitionen seines Ingenieur-Vaters wie ein Schlag ins Gesicht traf. Mit zwanzig hatte sich Grant Hadwin, ein Prep-School-Flüchtling aus der oberen Mittelklasse, die Tracht und das Gebaren eines Holzfällers alten Schlages angeeignet: graue Wollpullover von Stanfield, unter dem Knie abgeschnittene Jeans (um zu verhindern, dass man sich verfing) und Hosenträger, die

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