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Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Vaillant
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die Umweltproblematik betraf; es gab nur sporadische Aufforstungen abgeholzter Flächen, und an den Naturschutz, wie wir ihn heute kennen, wurde kaum ein Gedanke verschwendet. Auf beiden Seiten der Grenze galten die Wälder des Nordwestens immer noch als unerschöpfliche Schatzkammer. Lokale Regierungsstellen und die Holzindustrie machten aus Eigennutz gemeinsame Sache und legten hauptsächlich Wert auf Masse und Geschwindigkeit. Das Arbeitsmotto lautete: »Get the cut out.« (Raus mit dem Holzschlag) Man machte sich nichts daraus, beide Seiten eines ganzes Tals kahl zu schlagen und dann einfach zum nächsten weiterzuziehen. Das war die verbreitete Vorgehensweise, Jahrzehnt für Jahrzehnt, und Tal für Tal. Schließlich gab es davon doch so viele, besonders in British Columbia.
    British Columbia besitzt absolut enorme Ausmaße. Es reicht über zwei Zeitzonen und ist größer als hundertvierundsechzig Länder der Welt. Ganz Kalifornien, Oregon und Washington würden auf seine Fläche passen, und es bliebe noch Raum für den größten Teil von New England. Von unten bis oben und von einer Seite zur anderen besteht die Provinz fast ganz aus Bergketten, die von der Talsohle bis hinauf an die Baumgrenze dicht bewaldet sind. Noch in diesen Tagen ist es schwer, dieses Land abzufahren. Von Vancouver in der südwestlichen Ecke nach Prince Rupert, die halbe Küste hinauf, braucht man vierundzwanzig Stunden – wenn das Wetter mitspielt. Es gibt nur zwei Asphaltstraßen, auf denen man die Nordgrenze erreicht, und eine davon ist der Alaska Highway. Die Küste von British Columbia – einschließlich Inseln und kleiner Buchten – ist siebenundzwanzigtausend Kilometer lang und war einmal bewaldet, in den meisten Fällen bis hinunter ans Wasser.
    So wie Alaskas Landschaft lässt auch diese mit ihrer schieren Wucht alles schrumpfen, was sich in ihr bewegt. Eine Kolonie von fünfhundert Kilogramm schweren Seelöwen könnte nichts sein als eine Ansammlung von Maden, und ein menschliches Wesen könnte ein animierter Plasmabeutel sein, der den Moskitos Nahrung bietet. Dass etwas so Kleines wie ein Mensch an einem solchen Ort von Bedeutung sein könnte, erscheint lachhaft. Bei einer Geografie diesen Ausmaßes ist es leicht denkbar, dass die Vorstellung möglich gewesen sein konnte, die Goldgrube an der West Coast werde niemals erschöpft sein. Und die Zahlen bestätigen es: British Columbias Holzbestände waren Ehrfurcht gebietend. Nach mehr als sechzig Jahren industrieller Holzwirtschaft belief sich die Schätzung des weiterhin zur Verfügung stehenden Holzbestands in dieser Provinz auf dreihundertsechsundsechzig Milliarden board feet , also fast neun Milliarden Kubikmeter – genügend Holz, um zwanzig Millionen Häuser zu bauen oder einen Holzsteg zum Mars.
    Wie zu erwarten blieb Grant nicht lange bei seinem Onkel. Nach einer kurzen Lehrzeit zog es ihn tief in die Coast Mountains in die ehemalige Grubenstadt Gold Bridge, vier Stunden nördlich von Vancouver. Hadwin kannte die Gegend bereits gut: Seit seinen Kindertagen besaß seine Familie eine Hütte am Big Gun Lake, gleich außerhalb der Stadt. Von der Außenwelt durch hohe zerklüftete Berge abgeschnitten, war Gold Bridge immer eine weit abgelegene Stadt. Die Flüsse hier strömen gletschergrün, und nur über holprige Forstwege, die von todbringenden Steilhängen gesäumt werden, gelangt man nach Gold Bridge. Mehrere Kilometer südlich stehen die Ruinen der Bralorne-Pioneer-Mine, der lukrativsten Goldmine von British Columbia. In ihrer Blütezeit waren hier Tausende von Männern beschäftigt, die bis zu zwei Kilometer unter der Erde arbeiteten und feuchte, wieder aufbereitete Luft atmeten, die über fünfundvierzig Grad heiß war. Als die Mine 1971 geschlossen wurde, sank die Einwohnerzahl auf weniger als einhundert Seelen. Heute sind Grizzlybären, Wölfe und Bergziegen den Menschen zahlenmäßig überlegen.
    Bevor er seine Berufung als kommerzieller Waldvermesser und Wegeplaner fand, arbeitete Hadwin zeitweilig auch als Holzfäller, Prospektor, Bediener von schwerem Gerät, Sprengmeister und Hartgesteinmineur. Die meiste Zeit zwischen den einzelnen Jobs verbrachte er allein, jagte und erforschte die Wildnis der Umgebung. Abends schien er zwischen den beiden von seinem Vater und seinem Onkel repräsentierten Polen zu pendeln: zwischen der vorstädtischen Freizeitbeschäftigung Bridge einerseits und den wüsten Abenden in örtlichen Bars andererseits. Ein Nachbar erinnert sich,

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