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Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Vaillant
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dass Hadwin und ein Mann namens Franklin ihre Penisse auspackten und auf einen Tisch legten, um zu messen, wer den längeren besaß. Eine eingeborene Frau namens Big Edith war Schiedsrichterin. Zweifellos fanden ähnliche, aber nicht belegte Wettbewerbe ein Jahrhundert zuvor in Dodge City statt.
    Bei anderer Gelegenheit wettete ein Mann in einer Bar in Bralorne um hundert Dollar, dass Hadwin keine dreihundert Höhenmeter in einer Stunde aufsteigen konnte. Das wäre eine imponierende Leistung in der Coast Range gewesen, deren Berge Steilhänge von vierzig und fünfzig Grad aufweisen, die fast überall von losem Geröll und Schnee bedeckt sind. Hadwin verließ die Bar und kehrte kurz darauf mit dem Geld zurück. Auf die Frage, wo denn sein Geld sei, wurde dem Mann klar, mit wem er es zu tun hatte, und er stieg aus. Aber Hadwin ging trotzdem auf Klettertour und stoppte die Zeit, nur um sich zu beweisen, dass er es schaffen konnte. Hadwin war jemand, der sich mit vollem Einsatz und rückhaltlos in jede Unternehmung stürzte. Sein Durchhaltevermögen und sein Leistungswille waren legendär, und man sagte ihm nach, dass er sämtliche Kollegen in Grund und Boden laufen könne. »Sogar mit den Händen in der Tasche konnte er über Stock und Stein huschen, dass es nicht zu glauben war«, erinnert sich ein früherer Assistent, der inzwischen für das Forstministerium arbeitet. »Man hätte einen Raketenrucksack gebraucht, um mitzuhalten.«
    »Er besaß eine bessere Kondition als sämtliche Männer, die ich je gesehen habe«, erklärte Paul Bernier, langjähriger Kollege und enger Freund. »Wir rannten durch den Busch, und zwar immer um die Wette. Er mochte nicht verlieren.«
    Der legendäre amerikanische Pionier Daniel Boone war Berichten nach in der Lage, sechzig Kilometer am Tag zurückzulegen, wenn er sich in unwirtlichem Gelände befand. Hadwin hätte keine Mühe gehabt, mit ihm Schritt zu halten. Das Erlebnis, sich zusammen mit einem kräftigen Holzfäller in guter Verfassung von der West Coast über Land fortzubewegen, lässt die meisten Menschen nach Atem ringen. Beladen mit einer schweren Kettensäge, dem Werkzeuggürtel und Dosen mit Benzin und Öl können diese Holzfäller einen steilen Bergwald – Puma-Land, wie eine solche Gegend manchmal genannt wird – bemerkenswert geschmeidig und schnell durchqueren. Manches ist der Erfahrung und dem Arbeitsethos zu verdanken, aber es besteht auch eine gewisse Notwendigkeit: Das Land ist so riesig, dass man sich schnell bewegen muss, um überhaupt irgendwohin zu gelangen. Oft benutzen Holzfäller auch Laufstege, die sie selbst gebaut haben, indem sie Baum auf Baum gefällt und hintereinander ausgelegt hatten, sodass sie bis zu einem Kilometer weit ungehindert über Felsbrocken und Unterholz laufen können. Wegen des unebenen Terrains schwingen sich diese erhöhten Stege oft in kürzes ter Zeit zehn Meter hoch in die Luft, und der Übergang von einem Baum zum nächsten wird gewöhnlich durch einen Sprung oder tänzerischen Balanceakt über einen schmalen gesplitterten Ast bewerkstelligt, was im Regen lebensgefährlich sein kann. Das ist einer der Gründe, warum die meisten Waldarbeiter an der West Coast ihre Holzfällerstiefel mit den Nagelsohlen tragen. Hadwin war es egal, ob er sie an den Füßen hatte oder nicht. Selbst im Winter konnte man ihn an der Baumgrenze in Jeans, einem wolle nen Unterhemd und ungeschnürten Romeo-Arbeitsstiefeln an treffen, während sich seine Kollegen in schweren Parkas und Calks mühten, mit ihm Schritt zu halten.
    Das Leben eines alpinen Holzarbeiters offeriert eine berauschende Mischung aus vielfältigen Möglichkeiten und physischer Vehemenz, wie sie nur sehr wenige andere Berufe zu bieten haben. Für Hadwin warteten die Berge um Gold Bridge mit angemessenen Herausforderungen auf und servierten unentwegt das, was ein anderer Waldarbeiter aus British Columbia als »das Unerwartete«, beschrieb, »das als Krönung des Unvorhergesehenen auftaucht«. Selbst nach den Maßstäben eines Forstmannes bescherte der Ein satz als fernab operierender Facharbeiter der Holzindustrie Hadwin ein beneidenswertes Maß an Freiheit. Wenn er Lust hatte, einen dreitausend Meter hohen Berg zu besteigen, konnte er das einfach tun, und wenn der Berg auch noch ein geeignetes Schneefeld bot, konnte er sich eine kilo meterlange Rutschpartie bis hinunter an die Baumgrenze gönnen. Dabei konnte es zuweilen geschehen, dass er auf einen See stieß, der noch auf keiner Karte

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