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Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Vaillant
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    1873 besuchte James Swan, ein amerikanischer Schriftsteller, Richter, Historiker, Zolleintreiber und Förderer des Nordwestens, die Queen Charlottes im Auftrag der Smithonian Institution. Während seines Aufenthaltes dort berichtete er von Kanus, die »sehr groß waren und einhundert Personen samt kompletter Ausstattung Platz für eine lange Reise zu bieten vermochten«.
    Kanus wurden von indigenen Völkern in ganz Amerika für verschiedene Zwecke eingesetzt, von Walfangexpeditionen auf hoher See bis hin zu kriegerischen Vorhaben und dem Transport von Personen und Handelsware. Die Einbäume waren an beiden Küsten Nordamerikas weit verbreitet, aber nur den Völkern der First Nations im Nordwesten kann der Bau der weltweit größten Kanus zugeschrieben werden; manche hatten eine Länge von fast dreißig Metern. Nachdem ein zum Kanubau geeigneter Baum ausgewählt war, wurde er gefällt und mithilfe von Steinäxten und Feuer bearbeitet; anschließend machten sich Schnitzer daran, den Stamm an Ort und Stelle grob auszuhöhlen, um ihn dann mehrere Kilometer weit aus dem Wald ins Dorf des Schnitzers zu schleppen, der das Kanu fertigstellen sollte. In den Wäldern findet man noch heute die Spuren fehlgeschlagener Versuche. In diesen gigantischen Holzkanus steuerten die Haida regelmäßig eine neue Heimat an und ließen eine alte hinter sich. Mit jedem kollektiven Ruderschlag schienen ihre Inseln weiter im Meer zu versinken, während vor ihnen in der Ferne schneebedeckte Gipfel auftauchten – wie ein fremder Planet. Kaum ein heute Lebender dürfte jenes Gefühl nachempfinden können, sich allein durch Glauben und Muskelkraft neue Welten vom Horizont zu holen.
    Wie für alle Küstenstämme vom nördlichen Kalifornien bis zum Südosten Alaskas waren Bäume die Grundlage fast sämtlicher von den Haida gefertigter Dinge. Ihre Hüte und Körbe flochten sie aus den Wurzeln der Fichte, und praktisch alles andere, auch ein großer Teil ihrer Kleidung, stammte von der Rinde und dem Holz der Red Cedar. Diese Bäume wachsen hoch, sind geradlinig gemasert, und ihr Holz lässt sich leicht verarbeiten – perfekte Eigenschaften für robuste Konstruktionen. Kein Wunder also, dass die Häuser der Haida die Größe eines kleinen Flugzeughangars erreichen; ihre geschnitzten Totempfähle können genauso lang sein wie ihre Kanus. Von ihrer abgelegenen Küstenbasis aus plünderten und handelten sie nicht nur die Küste auf und ab, sondern auch landeinwärts entlang der Flüsse. Sie erlitten Verluste, wurden aber selten Opfer von Rache feldzügen, da nur wenige Küstenstämme den Mut aufbrach ten, sie durch die Hecate Strait zu verfolgen. Es gab zwar Fahrten, die dem friedlichen Handel galten, doch viele Expeditionen, sogar die zu benachbarten Dörfern, zielten auf Plünderung und Versklavung. Im Jahr 1850 war der Ruf des Stammes, was Grausamkeit, Mobilität und waghalsige Seetüchtigkeit betrifft, ähnlich legendär geworden wie jener der Wikinger. Es ist schon viel darüber spekuliert worden, wie weit die Haida bei ihren Fahrten gekommen sein mögen, mittlerweile konnte jedoch nachgewiesen werden, dass mit einem Mitte des 19. Jahrhunderts gefertigtem Ein baum eine Fahrt von British Columbia bis nach Hawaii möglich wäre. (Theoretisch hätte ein Grieche bei Nutzung der vorhandenen Handelsrouten und Seefahrttechnik bereits 400 nach Christus die West Coast erreichen können.)
    Diverse benachbarte Festlandstämme, besonders die Tlingit und Tsimshian, standen im Ruf, ähnlich grausam zu sein, verfügten jedoch über ein größeres Territorium, bessere Möglichkeiten für den Handel und jederzeit verfügbare Feinde, weshalb sie in der Regel nicht ganz so weit fuhren. Trotz gegenseitiger Feindschaft weisen alle Stämme der Northwest Coast starke kulturelle Gemeinsamkeiten auf. Alle reisten in Kanus, schnitzten Totempfähle und hatten ähnliche Stammes- und Clanstrukturen; in einigen Fällen wurde untereinander geheiratet, und für alle waren Reichtum und Status von großer Bedeutung, was in Form sogenannter Potlatch-Zeremonien ganz unmittelbaren Ausdruck fand. Ein Potlatch kann vielen Zwecken dienen, der Feier eines Richtfestes oder um zu zeigen, dass jemand der Rolle des Anführers würdig ist, oder zur Gesichtswahrung und der Entschädigung für eine Verletzung – gesellschaftlich oder physisch –, die dem Mitglied einer anderen Familie oder eines anderen Clans zugefügt wurde. Er kann aber auch der Würdigung einer verstorbenen

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