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Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Vaillant
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Bär und Biber – Wappen und spirituelle Verbündete der früheren Bewoh ner – aus der einst als Wald entworfenen Ansammlung von Pfählen. Aus einzelnen Bäumen geschnitzt, sind die Tierwesen bis zu einer Höhe von mehr als zehn Metern übereinander aufgetürmt und so verschmolzen, dass der Eindruck entsteht, Exemplare der lokalen Fauna seien nacheinander in gigantische Reagenzgläser gestopft worden und erstarrt. Ihre kunstfertig geschnitzten Merkmale wirken ebenso übertrieben wie einschüchternd: heraushängende Zungen, weit geöffnete Nasenlöcher, gebleckte Zähne. Inzwischen jedoch gemahnen diese Gesichter eher an die Folgen der Totenstarre als an die Grausamkeit des Lebens; dieser Ort hat etwas Geisterhaftes. So scheint es angebracht, dass fast alle der noch stehenden Pfähle sogenannte Mortuary Poles sind, die einst von Kisten gekrönt waren, in denen die sterblichen Überreste wohlhabender Leute ruhten. Es kostet Mühe, sich das hier draußen gelebte Leben vorzustellen: die ambitionierten Bildhauer, hoch erfreut darüber, ihre Tsimshian-Biberzähne gegen Schnitzwerkzeug aus europäischem Eisen austauschen zu können; die scheunengroßen Langhäuser aus Cedar-Planken und - Pfosten; die verschwenderischen Potlatch-Zeremonien, mit denen Häuptlinge und andere angesehene Männer ihren Status aufwerteten, indem sie zeigten, wie viel sie auszugeben in der Lage waren.
    Der Grund dafür, dass heute so viele Menschen in Old Masset zusammengekommen sind, ist ein »Memorial Potlatch«, mit dem Skilay gedacht werden soll. Skilay, auch Ernie »Big Eagle« Collison genannt, war eines der mächtigsten Mitglieder der gesamten Haida Nation, nicht nur seines Clans. Er war kein Häuptling, besaß jedoch eine ebenso angesehene Stellung, die im Alltag sogar noch wichtiger war. Als talentierter Fischer, Bildhauer, Sänger und engagierter Politiker und Aktivist, der er war, gelang ihm das Überschreiten von Grenzen, und wenn alle anderen bereits zu wütend oder entmutigt waren, um zu sprechen, konnte er sie wieder zum Lachen bringen. Skilay war auch als der »Steersman« bekannt; er war es, der das Kanu – das Staatsschiff der Haida – in die richtige Richtung lenkte. Für viele der Versammelten war Skilay bei all seinen Fehlern und Unzulänglichkeiten die Verkörperung dessen, was es bedeutet, Haida zu sein – mit anderen Worten: ein Mensch.
    Das Wort Haida bedeutet ganz einfach »Volk«, und das ist eigentlich nur ein anderes Wort für »wir«. Und in der Tat haben die Namen, die sich die meisten indigenen Völker auf der Welt zur Beschreibung ihrer selbst gegeben haben, diese Bedeutung und implizieren: »Wir sind wir: das Volk – und ihr anderen seid es nicht.« Die Haida nennen ihre Inseln Haida Gwaii , was wörtlich heißt »Ort (Inseln) des Volks«, doch es gibt noch einen älteren Namen, der sich etwa so übersetzen lässt: »die aus dem (übernatürlichen) Verborgenen kommenden Inseln«. Demzufolge handelt es sich bei den Inseln um eine Art existenziellen Gezeitenbereich, der sich nicht nur zwischen Wald und Meer, sondern auch zwischen der Oberfläche und den Geisterwelten befindet. Haida Gwaii ist der am weitesten abgelegene Archipel der gesamten West Coast, und es gibt keinen anderen nordamerikanischen Stamm, dessen Heimat weiter vom Festland entfernt liegt oder dessen räumliche Grenzen so klar und eindeutig gezogen sind. Es wird allgemein angenommen, dass Teile der Inseln »Refugien« waren, Orte, die von den ausgedehnten Eisdecken verschont blieben, welche sich während der letzten Eiszeit über weite Teile Nord amerikas gelegt haben. Aus diesem Grund werden die Inseln gelegentlich auch als die »kanadischen Galapagos-Inseln« bezeichnet, und in vielerlei Hinsicht bilden sie tatsächlich eine Welt für sich, in der viele Arten und Unterarten leben, die an keinem anderen Ort der Welt vorkommen. Auch die Sprache der Haida gilt unter Linguisten als »isoliert«, also mit keinem anderen Stamm der West Coast verwandt.
    Genau wie der riesige Ozean und das launenhafte Wetter, dem sie ausgeliefert sind, verfügt auch so ziemlich alles andere in der Welt der Haida über die Fähigkeit, seine Form und Funktion zu ändern, je nach Lust und Laune oder wie die Umstände es erfordern. So ist ein Felsen niemals nur ein Felsen und ein Krebs immer mehr als nur ein Krebs. Berge können die Form von Walen annehmen, ein Kanu sperrt sein Maul auf, um einem Grizzlybären die Kehle rauszureißen. Zu praktisch jedem Felsen, Riff,

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