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Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Vaillant
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bedeutenden Persönlichkeit dienen. Ungeachtet des jeweiligen Zwecks hält der Gastgeber für alle Teilnehmer Speisen und Geschenke bereit und verpflichtet sie damit zu bezeugen, was sich ereignet hat. Die Stämme der Nordwestküste waren die einzigen auf dem Kontinent, die so viel Hab und Gut besaßen und über so effektive Transportmittel verfügten, dass sie ihre Besitztümer in schweren Holzkisten unterbringen konnten, von denen einige groß genug waren, einem Menschen Platz zu bieten.
    Aber die Haida waren nicht nur meisterhafte Seefahrer, sondern auch Jäger auf dem Wasser: Sie erlegten Haie, Seehunde, Seelöwen, Heilbutt und gelegentlich einen Wal. Dabei schien dies kaum vonnöten zu sein; Meeresfrüchte waren so reichlich, die Züge von Lachs, Hering und Sardine so riesig und leicht zu ernten, dass man die Umgebung der Haida auch als eine Art Unterwasserbüfett beschreiben könnte, aufgelockert durch wiederkehrende Spezialitäten der Saison. Was immer ihnen auf der Insel fehlte, konnte auf dem Festland eingetauscht oder erbeutet werden. Auch heute noch färbt die Fischmilch (Samen) der Heringe ganze Inselbuchten weiß, und es lassen sich mehr als einen Kilometer lange wie breite Gruppen von Seehunden beobachten, die Eulachon * den Skeena River herauf und quer über die Hecate Strait jagen.
    Diese üppigen Meeresgaben waren Grund dafür, dass die Nordwestküste weltweit mit die größte Dichte nicht landwirtschaftlich orientierter Bevölkerung aufwies. Dank so reichlich vorhandener Nahrung und des sehr freundlichen Klimas verfügten die Haida, genau wie entsprechende tropische Völker, über enorm viel freie Zeit zum Feiern von Festen, Kämpfen, Geschichten erzählen, Schaffen imposan ter Kunstwerke und Bauen gigantischer Einbäume – kurz, viel Zeit für die Entwicklung einer höchst komplexen Kultur. Man schätzt, dass vierzig Prozent der Einwohner dieser Region Sklaven waren.
    Die Masken, Totempfähle, Langhäuser und Kanus der Haida verkörpern Höchstleistungen der Kunst und des Kunsthandwerks in Nordamerika. Auch ohne die Urheber zu kennen, könnten die meisten Leute ein Werk der Haida identifizieren, deren Kunst international Symbol für die Kultur der indigenen Bevölkerung Nordamerikas geworden ist. Ein sechzehn Meter langes Haida-Kanu gehört zur permanenten Ausstellung im Canadian Museum of Civilization in Ottawa. Ein noch größeres Kanu – neunzehn Meter lang und kunstvoll verziert – ist Kernstück der Ausstellung zum Thema »Northwest Indians« im American Museum of Natural History in New York. **
    Viele Spuren dieses frühen Vermächtnisses sind erhalten geblieben. Verteilt über die als historischer Wirkungsraum der Haida geltenden Inseln, gibt es verlassene Dörfer, in denen noch immer dieselben aus dem Holz der Red Cedar gefertigten Pfähle zu sehen sind, die einst die ersten europäischen Besucher des Archipels begrüßt und verängstigt hatten. An keinem anderen Ort der Küste – oder der Erde – überlebten so viele alte Pfähle an ihrem ursprünglichen Standort am Strand. Das Holz der Red Cedar ist extrem widerstandsfähig, hier draußen jedoch hält ein Pfahl in der Regel nicht länger als ein Menschenleben, bevor er umfällt und vom Wald verschlungen wird. Diese Pfähle sind die Osterinsel und der Angkor Wat des pazifischen Nordwestens, doch während Letzterer für die Ewigkeit gebaut ist, sind die Haida-Pfähle aus Holz und damit dem Tode geweiht; aller Wahrscheinlichkeit nach werden die noch stehenden Pfähle zu unseren Lebzeiten (wie von den Haida gewünscht) wieder von der Natur verdaut werden. Das Dorf Nan Sdins ( NIN -stints) an der Südspitze des Archipels ist nicht nur der berühmteste und am besten erhaltene dieser Orte, er wurde auch zum UNESCO -Weltkulturerbe erklärt. Der geschützte Standort des Dorfs und die in jüngster Zeit ausgeführten Konservierungsmaßnahmen haben dafür gesorgt, dass hier noch mehr als zwei Dutzend Pfähle stehen, obwohl sie weit über hundert Jahre alt sind.
    An der Hälfte von ihnen sind Brandspuren zu erkennen, denn bald nachdem das Dorf Ende des 19. Jahrhunderts verlassen worden war, überquerten Mitglieder eines der von den Nan-Sdins-Kriegern wiederholt überfallenen Küstenstämme die Hecate Strait, um das Dorf in einem Akt lange zurückgehaltener Rache anzuzünden. Aber auch heute noch ist sichtbar, was Feuer, Anthropologen und Zeit übrig gelassen haben. Knochenbleich und starren Blickes stieren die Augen von Adler, Rabe, Orca, Frosch,

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