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Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Vaillant
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Eiland und Meeresarm bestehen übernatürliche Assoziationen, wie sie auch von auffallenden geografischen Merkmalen bei Aborigines im australischen Outback hervorgerufen werden und im Heiligen Land bei Moslems, Christen und Juden. Auch die goldene Fichte ist Teil dieses Netzes aus wechseln den Formen und ineinandergreifenden Bedeutungen. Eine Menge Vertreter dieser vielschichtigen Dimensionen sind nach Old Masset gerufen worden, um Skilay zu ehren.
    Skilay gehörte zu den Adlern, einer der beiden Gesellschaftsgruppen oder Moieties der Haida (die andere sind die Raben), und diesen beiden Wappenschirmen untergeordnet sind Dutzende Clans. Moiety- und Clanzugehörig keit werden über die Mutter vererbt, und für jede gibt es ein repräsentatives Wappen. Diese sind meist Vögeln, Tieren, Seeungeheuern oder Menschen nachempfunden, es werden jedoch auch Symbole wie Regenbogen, Wolken und sogar Lawinen verwendet. Durch die Heirat untereinander besitzen die meisten Familien mehrere Wappen, und die Komplexität ihrer Abstammungsbeziehungen stellt die euro päischer Adelsfamilien weit in den Schatten. Anthropologen haben die Verwandschaftssysteme mit höherer Mathematik verglichen. Skilays primäre Clanzugehörigkeit war die der Tsiij git’anee [Tschiets- GIT -nei] (Tsiij-Insel-Adler Volk), ein Volk, zu dessen historischem Territorialgebiet die nördlichen Strecken des Yakoun River in der Gegend der goldenen Fichte gehören. Eine der vielen Rollen Skilays bestand darin, den Baum K’iid K’iyaas zu repräsentieren, ein Wesen, das er liebte und das zu schützen er und sein Clan verpflichtet waren. Doch Skilay kam in seinen besten Jahren ums Leben, und nun, fast zwei Jahre nach seinem Tod, hat die Familie alles für sein Gedenk-Potlatch bereit. Sie hat das nötige Kapital angehäuft, die Geschenke gekauft oder hergestellt, viele hundert Einladungen verschickt, das Essen vorbereitet und die Schnitzarbeit an einem sorgfältig ausgewählten zwölf Meter hohen Pfahl bezahlt. Bei gewissenhafter Ausführung all dieser Dinge können sie sicher sein, dass ihrem geliebten Skilay, aber auch seiner Familie, sei nem Clan, seiner Moiety und seinem Stamm die gebüh rende Ehre zuteilwird.
    Skilay war ein großer Mann, der von Herzen gern kochte und aß; er war ein guter Versorger und übermäßig großzügig, so großzügig, dass er auch Leute aufnahm, die niemand anders wollte, und sogar solche, die nicht zum Stamm gehörten. Skilay adoptierte einen angloamerikanischen Jungen namens Bone (kurz für Bonehead) und schenkte ihm eine Familie, einen Stamm und ein lebenswertes Leben. Bone ist groß und glatzköpfig und wird an den Gedenkfeiertagen für seinen Adoptivvater die schweren Suppentöpfe tragen. Er wird jeden Morgen, nachdem Hunderte von Gästen sich bei Sonnenaufgang mit Geschenken beladen in ihre Schlafstatt zurückgezogen haben, die große Halle putzen. Am zweiten Abend der Feierlichkeiten wird er einen angemessenen Haida-Namen erhalten und alle mit seiner Eloquenz überraschen.
    Wie alle Potlatches wurde auch dieser sorgfältig choreografiert, und das unter dem Pfahl des Häuptlings abgehaltene Speiseritual ist nur ein kleiner Teil des komplizierten Vorgangs, bis zu dessen Abschluss mehrere Tage vergehen werden. Während Lachs und Heilbutt in Asche und Rauch aufgehen, ist es der Häuptling selbst, der letzte Hand an Skilays Gedenkpfahl legt. Den oberen Abschluss des Pfahls bildet ein Kolibri, das Wappentier des Tsiij git’anee-Clans. Später am Tag wird der Pfahl neben seinem Haus aufgerichtet werden, eine gefährliche Aufgabe, für die buchstäblich Hunderte von Leuten benötigt werden. Die Gäste haben sich monatelang vorbereitet, aus dem Norden, dem Süden und auch vom Festland sind sie gekommen, viele von ihnen tagelang gereist. Die meisten älteren Gäste tragen Hüte aus Fichtenwurzeln. Deren enges Flechtwerk hält Regen ab und schützt vor der Sonne. Außen ist die Kopfbedeckung mit einer schwarz-roten Bemalung in höchst raffiniertem, stilisiertem Design verziert. Von mancher Krempe hängen Hermelinpelze sowie winzige Kanupaddel herunter und tanzen vor den Augen des Hutträgers. Die wohlhabenderen Frauen tragen an den Handgelenken Schmuck aus Gold und Silber, der aus dem Schatz eines Pharaonengrabs stammen könnte. Angehörige desselben Stammes erkennen sofort, wer den Schmuck geschaffen hat und welcher Art seine Verbindung zum Träger des Schmucks sein muss. Künstler wie Kunde gehören meist dem Adel an, und schon anhand

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