Am Ende der Wildnis
Sollte ein Holzfäller verkatert sein, wenn er an einem langen kanonenrohrför migen Stamm hinaufschaut, dessen sich verjüngendes Ende etwa zehn Stockwerke höher zu einem kaleidoskopischen Blätterdach explodiert, kann ihn das nicht nur schwindlig machen, sondern auch Übelkeit verursachen. Aber auch im nüchternen Zustand kann die Erfahrung irritierend sein, und sie wird verstärkt durch die Tatsache, dass ein langer Stamm sich enorm biegt, wenn er kurz davor ist zu fallen. Leider ist dieser Effekt am besten dann zu beobachten, wenn Fehler gemacht wurden.
Soll ein Baum, gleich welcher Größe, gefällt werden, wird normalerweise zunächst die Fallrichtung gewählt und dann auf der entsprechenden Seite eine keilförmige Einkerbung gesägt, die an ein grinsendes Gesicht erinnert. An der Küste wird das als Humboldt-Unterschnitt bezeichnet. Es kommt vor, dass ein Holzfäller den Fällkerb zu flach ausführt oder die natürliche Schrägneigung des Baumes falsch einschätzt, mit dem Ergebnis, dass dieser nicht in die beabsichtigte Richtung kippt, sondern sich auf die Säge setzt, die sich auf der anderen Seite ins Stamminnere vorarbeitet. Dies ist eine extrem gefährliche Situation. In diesem Moment ist die Säge nutzlos und der Holzfäller verliert die Kontrolle. Der Baum hat jetzt alle Möglichkeiten: Nicht nur stehen ihm bei der Auswahl der Fallrichtung dreihundertsechzig Grad zur Verfügung, er kann auch am unteren Ende ausschlagen, und bei der enormen Masse könnte das sogar für einen Elefanten, der von dem Baum nur gestreift wird, tödlich ausgehen. Hat sich ein Baum erst einmal so »zurückgelehnt«, dann sind weitere Fällkerben die einzige Möglichkeit, ihn dazu zu bringen, in annähernd kontrollierter Art und Weise zu fallen.
Außer ihren speziellen Arbeitsstiefeln tragen viele Holzfäller heutzutage zum Schutz bei Kettensägenunfällen Kevlar-Hosen, die von den typischen roten Hosenträgern gehalten werden. Um die Taille geschlungen haben sie einen schweren Ledergürtel mit Holstern und Beuteln, in denen sich Kettensägenwerkzeug, Kompressionsverbände, Handaxt und Fällkeile aus hochfestem Kunststoff befinden. In den Einschnitt auf der Rückseite des widerspenstigen Baumes werden ein oder sogar mehrere Keile gesetzt. Manche dieser Keile sind weniger als drei Zentimeter dick, was aber oft ausreicht, um das Gleichgewicht eines Baumes zu verlagern. In dieser Situation wird der Baum nur noch durch ein schmales Halteband, die nach unten ziehende Schwerkraft und die exakt ausbalancierte Architektur des Baumes selbst aufrecht gehalten. Doch schon ein Windstoß oder eine nachgebende Holzfaser reicht, um das alles binnen eines Augenblicks zu ändern. Und während die Keile weiter eingeschlagen werden, zeigt sich die Elastizität eines Baumes in alarmierender Deutlichkeit. Kurze himmelwärts gerichtete Blicke des Holzfällers folgen jeder durch die Schläge verursachten Druckwelle, die am Stamm entlang nach oben wandert und im rhythmischen Erzittern der Wipfelzweige frei wird. Diese Schläge mögen wie eine unnötige Provokation wirken, so als würde man einem Riesen vors Schienbein treten, und das ist gar nicht so abwegig. Es bedarf ganz besonderer Eigenschaften, auf etwas, das breiter ist als die eigene Haustür, schwerer als das ganze Haus und zwanzig Stockwerke hoch, gerade dann einzuschlagen, wenn es eine Art Schlangentanz ausführt.
Dennis Bendickson merkte schnell, dass er nicht zu dieser Sorte Mensch gehörte. Er ist ein Holzfäller in dritter Generation, dessen Familie zu den Pionieren auf Hardwicke Island gehörte. Mit silbernem Haar, kräftiger Statur und immer noch kräftig wirkenden Unterarmen lehrt er jetzt Forstwirtschaft an der University of British Columbia. Wie die meisten Holzfäller war er jung, als er in die Wälder ging, und schon im späten Teenageralter begann er mit dem Fällen von Urwaldbäumen. Ihm war klar, dass er nicht dafür gemacht war, als er sich fragte: »Will ich meinen einundzwanzigsten Geburtstag noch erleben?«
»Bei großen Bäumen sind in der Regel Keile nötig, um sie zum Fallen zu bringen«, erklärte Bendickson. »Ich hämmere und hämmere immer wieder auf die Keile ein, und der Baum lässt sein Halteband bersten und dreht sich auf dem Stumpf wie eine Ballerina. Und man selbst rennt unten herum wie ein Eichhörnchen und versucht herauszufinden, in welche Richtung er fällt, und du entscheidest dich erst, wenn der Baum sich entschieden hat.«
Auf den akademischen Witz
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