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Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Vaillant
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passieren.‹ Ich fragte ihn: ›Warum tust du dir das an?‹, und er sagte: ›Ich mache mich fit. Nächstes Jahr werde ich nicht mehr hier sein.‹ Mir war klar, dass er irgendwas plante.«
    Sie hatte jedoch keine Ahnung, was das war. Während der nächsten sechs Monate vertraute er ihr die intimsten und schmerzvollsten Einzelheiten seines Lebens an, aber seine Zukunftspläne blieben ein Mysterium. Cora wurde langsam unruhig. Sie hatte vorgehabt, nur zwei Wochen in Whitehorse zu bleiben, doch auf Hadwins Drängen blieb sie schließlich sechs. Gelegentlich nahmen dort ansässige Ureinwohner sie beiseite und bedeuteten ihr, was Hadwin beträfe, ein ungutes Gefühl zu haben. Sie möge sich doch lieber von ihm fernhalten. »Wenn ich davon sprach, nach Hause zu fliegen«, erklärte sie, »weinte Grant wie ein Baby und sagte: ›Ich glaube, du bist der einzige Mensch, der sich jemals um mich gesorgt hat.‹« Aber er sagte auch, sie solle nicht ans Telefon gehen, wenn ihre Schwestern anriefen. »Schließlich konnte ich ihn überzeugen, dass ich nach Hause musste, und er bot an, mich zu fahren. Er sagte: ›Erzähl deinen Schwestern nicht, dass du nach Hause kommst, überrasche sie einfach.‹«
    Das war der Moment, von dem an Cora Gray um ihr Leben zu fürchten begann. Und es war auch die Zeit, in der Tilly Wale, ihre Halbschwester, den Frosch-Traum hatte. Genau wie die Haida sind die Gitxsan in Clans unterteilt: Cora gehört dem Frosch-Clan an, genau wie Tilly. Nur wenige Tage, bevor Cora Whitehorse zu verlassen plante, träumte Tilly von einem Frosch, der von einem Auto zerquetscht wurde. Sie war so beunruhigt, dass sie ihre Halbschwester anrief und ihr von dem Traum erzählte. Auch Cora hatte Angst, doch so weit von zu Hause entfernt gab es nichts, was sie hätte tun können.
    Grant und Cora verließen Whitehorse am 30. Dezember um vier Uhr morgens. Zwischen ihnen und Coras Heim in Hazelton lagen fünfzehn Stunden Fahrt durch sehr abgelegene Gegenden, und bedingt durch Breitengrad und Jahreszeit würde die Sonne nur sechs Stunden am Himmel stehen. Hier oben bekommt man häufig Elche, Wölfe, Berg löwen und Rotluchse zu Gesicht, und deren Augen funkelten grün und orangefarben aus den im Dunkeln liegenden Straßenrändern. Um halb sechs Uhr abends erreichten sie die Nass River Bridge, zwei Stunden nördlich von Hazelton. Wie die meisten Brücken im Norden ist auch diese nur einspurig, und Grant fuhr mit voller Geschwindigkeit darauf zu. Trotz des hellen Mondlichts und der guten Sicht bemerkte er nicht, dass ihnen von der anderen Seite ein Pick-up entgegenkam. Cora weiß noch, dass sie ganz ruhig blieb und sagte: »Grant, ist dir klar, dass die Brücke einspurig ist?« An der Zufahrtsrampe war die Straße vereist, und erst im letzten Moment stieg Hadwin in die Bremsen. Sein Honda geriet ins Schleudern und rutschte auf die niedrige Seitenplanke zu. Auf dem Beifahrersitz kommentierte Cora weiterhin das, was sie für das Ende ihres Lebens hielt: »Dann sagte ich: ›Wir fahren in den Nass.‹ Ich bekam keine Panik, ich dachte einfach: ›Wenn es so ist, dann ist es so.‹ Ich ging irgendwie davon aus, dass es so kommen würde.«
    Letztendlich stürzten sie nicht in den Nass, sondern stießen frontal mit dem Pick-up zusammen. Coras Fußgelenke wurden zertrümmert, ihr Jochbein brach und beide Hände erlitten schwere Prellungen. Grant dagegen hatte lediglich eine aufgeplatzte Lippe. Noch beunruhigender als Coras Verletzungen war jedoch die Tatsache, dass vierzig Grad minus herrschten und sie ihre Wärmequelle verloren hatten. Bei diesen Temperaturen kann Gusseisen zersplittern wie Glas, an offenen Wunden kommt es binnen Sekunden zu Erfrierungen und das Berühren von Metall brennt wie Feuer. Grant sprang aus dem Auto, um Cora zu helfen, vergaß jedoch in der Eile, seine Handschuhe anzuziehen, und als er versuchte, ihre Tür zu öffnen, verbrannte er sich sofort die Finger. Beim Aufprall waren die Koffer von hinten gegen den Beifahrersitz geschleudert worden, sodass Cora eingeklemmt war. Der Sicherheitsgurt drohte sie zu erdros seln, doch Hadwins Hände waren so voller Frostblasen, dass er sie nicht befreien konnte. Er rief den Fahrer des Trucks zur Hilfe und legte dann seine Arme um Cora. »Nicht sterben!«, flehte er. »Lass mich nicht zurück!«
    Grant hatte Cora für die lange, kalte Fahrt in dicke Kleidung und einen Schlafsack gehüllt, und nach Aussage ihres Arztes wäre sie ohne diese Polsterung so gut wie sicher

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